Unheimliche Doppelgänger. Latefa Wiersch im Dortmunder Kunstverein

Der Wohnkomplex Hannibal II im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld war 1976 eine Art architektonisches Versprechen, das die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürger:innen damals machte: bezahlbarer, barrierefreier Wohnraum mit einer Mieterschaft, zu der die Hochschullehrerin genauso zählen konnte wie der Arbeiter. Die Tatsache, dass es gänzlich anders kam, als es gedacht war, hat Hannibal II mit zahlreichen anderen Wohnhochhäusern aus den 1970er Jahren gemein. 2017, nur einen Monat nach dem Brand in den Londoner Grenfell Towers, wurde Hannibal II aufgrund von Bau- und Planungsmängeln bei der Lüftung innerhalb weniger Stunden zwangsevakuiert. 753 Bewohner:innen verloren damals von jetzt auf gleich ihr Zuhause – und wurden obdachlos. Heute, acht Jahre nach der Räumung, steht der Komplex immer noch leer, soll aber noch in diesem Jahr vom neuen Eigentümer vollständig saniert werden.

Die Künstlerin Latefa Wiersch ist in den 1980er und 90er Jahren im Hannibal II aufgewachsen. Eine fast normale Kindheit im Ruhrgebiet. Aber eben nur fast. Wierschs Vater stammte aus Marokko. Die Tochter sah dementsprechend, wenn auch in Deutschland geboren, anders aus als die meisten ihrer Freund:innen und Mitschüler:innen im Dortmunder Westen. In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung, die noch bis April im Dortmunder Kunstverein gezeigt wird, erinnert sich Wiersch an ihre Jugend als nicht-weißes, deutsches Mädchen in Dortmund – und lässt die Museumsbesucher:innen an dem, was sie beschäftigte und prägte, was sie zu dem werden ließ, was sie heute ist, teilhaben. Dabei bedient sich Wiersch eines ziemlich genialen Kniffs: Sie benennt nicht nur die Ausstellung nach jenem Wohnkomplex, in dem sie groß wurde, sondern rückt einen Teil von Hannibal II auch als architektonisches Modell in Original-Größe ins Zentrum des Ausstellungsraums.

Nachgebauter Teil von Hannibal II im Dortmunder Kunstverein, Foto: Jens Franke

Dort dient es als Kulisse und Spielfeld für die Figuren und Objekte der Künstlerin, mit deren Hilfe sie Geschichte und Erfahrungen nicht-weißer deutscher Identitäten aufarbeitet. Bei ihrer Mission ist Wiersch, die mittlerweile in Zürich lebt, in unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen unterwegs: Performance, Skulptur, Video und Fotografie. Bereits seit einigen Jahren schafft sie zudem grob genähte Puppenfiguren aus Materialien wie Stoff, Kleidung, Leder, Kunsthaar, aber auch zersägten Möbeln, Draht, Holz und Füllmaterial. Die leicht unheimlisch anmutenden Puppen, deren Gesichter und Körper aufgrund der Nähte seltsam vernarbt wirken, dienen als Doppelgänger:innen der Künstlerin und ihres sozialen Umfelds. Eingebettet in unterschiedliche szenische Erinnerungen treiben sie im Dortmunder Kunstverein ihr Unwesen. Mit ihrer Hilfe untersucht Wiersch Vergangenheit und Gegenwart postmigrantischer Identität in Deutschland. Und so werden sie auch die Protagonisten von Wierschs jüngster Performance sein, die als Teil des Festivals “Dortmund Goes Black” am 12. April um 17 und 18 Uhr im Kunstverein zu erleben ist. Nicht minder spannend: Für den 22. März lädt das Haus zu einem Erzählspaziergang, in dessen Rahmen sich ehemalige Bewohner:innen des Hannibal II an ihre Zeit dort erinnern. Start ist um 14 Uhr am Dortmunder Kunstverein.

Doppelgängerin von Künstlerin Wiersch, Foto: Jens Franke

Latefa Wiersch – Hannibal: bis 13.4.2025, Dortmunder Kunstverein, Rheinische Straße 1, Mi bis Fr, 15-18 Uhr, Sa + So 12-18 Uhr

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