Einzig und allein. Eine Beerdigung ohne Gäste

Das gemeinsame Erinnern an Verstorbene gehört zum Wesen einer Beerdigung. Dass man sich im Arm hält, sich gegenseitig Trost spendet. Was aber ist, wenn keiner kommt?

An einem Dienstag im August steht Pastor Stephan Pörtner vor der Kapelle auf dem Südfriedhof. Die Luft riecht nach Regen, der in der Nacht zuvor reichlich gefallen ist. Das Gezwitscher der Vögel mischt sich mit dem Verkehrsrauschen des nahen Südrings. 30 Jahre ist Pörtner schon in Diensten der katholischen Kirche. Hunderte von Menschen hat er in der Zeit unter die Erde gebracht. Nach Stationen in Köln-Chorweiler und dem eher ländlich geprägten Lindlar wirkt der 55-Jährige seit 2015 in Düsseldorf. Der Kirchenmann ist in vollem Ornat angereist: schwarzer Talar, weißes Chorhemd, um den Hals eine Stola. Die dunklen Schuhe selbstredend blitzeblank. In der Hand hält der Pastor einen Zettel, auf dem die Daten der Verstorbenen notiert sind. Maria Luzia L., geboren am 12. April 1930 nahe dem sauerländischen Olpe, gestorben am 11. Juni 2021 in Düsseldorf. Zuletzt wohnhaft im Martinstift. „Offenbar war sie nicht verheiratet. Jedenfalls ist hier kein Geburtsname notiert“, sagt Pörtner, während er auf seinen Zettel schaut. Darüber hinaus kann er über die Biografie von Frau L. nur spekulieren. Aus welchem Grund kam sie aus dem Sauerland nach Düsseldorf? Wie ist ihr Leben verlaufen? Wer war in den letzten Stunden an ihrer Seite? „Ich weiß es schlicht und ergreifend nicht.“

Wenn in Deutschland jemand stirbt, greift die sogenannte Beerdigungspflicht. Sie besagt, dass Verwandte für die Bestattung aufkommen müssen. Wenn keine Hinterbliebenen auszumachen sind, übernimmt die Kosten der Staat. In solchen Fällen spricht man von einer Ordnungsbehördlichen Bestattung. 2.650 Euro betragen die Kosten für Einäscherung und Beisetzung in einem nicht anonymen Urneneinzelgrab, Verwaltungsgebühren inklusive.
Rund 50 bis 60 Beerdigungen absolviert Stephan Pörtner pro Jahr. Ungefähr jede zehnte davon ist eine Ordnungsbehördliche Bestattung. Eine Zahl, die beweist, wie anonym das Leben in der Großstadt mittlerweile ist. In ländlichen Regionen herrsche eine ganz andere Beerdigungskultur vor, weiß der Gottesmann. Dort komme oft das ganze Dorf, um Abschied zu nehmen, die Friedhofskapelle sei bis auf den letzten Platz gefüllt. In Düsseldorf sei er hingegen schon fast überrascht, wenn mal 30 Leute da sind. Oft finden sich nicht mehr als zehn ein. „Machen wir es kurz“ heißt es dann schon mal von Seiten der Hinterbliebenen. „Es gibt ja Familien, wo der Kontakt nur relativ sporadisch war und die Beerdigung dann mehr oder weniger Pflichterfüllung ist.“

91 Jahre alt ist Maria Luzia L. geworden. Im Laufe ihres langen Lebens muss sie zahlreiche Menschen getroffen haben. Manche, denen sie sich sehr nah fühlte. Andere, die ihr einerlei waren. Manche, die sie vielleicht weniger mochte. Auf ihrem letzten Weg ist keiner von ihnen mehr an ihrer Seite. Weil sie Mitglied der katholischen Kirche war, erweist ihr immerhin Pastor Pörtner das letzte Geleit. Kurz nach ihrem Tod wurde L.s Leichnam eingeäschert. In den Wochen, die seitdem vergangen sind, war ihre Asche im Beerdigungsinstitut eingelagert. Drei Monate bleiben dem Ordnungsamt für die Suche nach Hinterbliebenen. Wenn dann niemand gefunden ist, wird die Urne zur Bestattung freigegeben. An dem Dienstag im August steht sie also in der Kapelle des Südfriedhofs, zu ihrer Linken eine rote Grableuchte. Die allesamt leeren Stühle sind im gebührendem Corona-Abstand angeordnet. Durch die farbigen Fenster der Kapelle dringt Morgenlicht. Zehn Uhr, klassische Beerdigungszeit. Bestattet wird von morgens acht bis mittags 14 Uhr. Für jede Trauerfeier ist die Kapelle 20 Minuten lang reserviert. 20 weitere Minuten sind für das eigentliche In-die-Erde-bringen von Sarg oder Urne vorgesehen. Wie heißt es so schön? Gestorben wird immer.

An dem Dienstag im August braucht Pastor Pörtner keine 20 Minuten. Vor der Urne stehend, zückt er zunächst sein wichtigstes Utensil: das Aspergill. Mit dem silbernen Stab wedelt er Weihwasser auf die Urne. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Schenke ihr den Frieden, den die Welt ihr nicht geben kann.“ Die Worte dazwischen verhallen in der leeren Kapelle. Aus einem Nebenraum treten zwei Friedhofsangestellte in anthrazitfarbenen Hosen und grau-blauen Hemden. Sie stellen sich vor der Urne auf, lupfen ihre Kopfbedeckungen mit dem Wappen der Landeshauptstadt Düsseldorf. Kurze Verbeugung, dann trägt einer von beiden die Urne in einem schwarzen Kunststoffnetz zum Elektrowagen und platziert sie auf dem dafür vorgesehenen hölzernen Gestell.

Wenig später schiebt sich das Gefährt schon geräuschlos über den Südfriedhof. Ginge man normales Tempo, man könnte den Wagen locker überholen. Aber auf dem Friedhof ist alles langsam, langsam und leise. Mit Ausnahme des Laubbläsers, der hinter der Kapelle rigoros die Stille durchbricht. Pastor Pörtner scheint dennoch ganz bei sich. Gemächlichen Schrittes folgt er dem Elektrowagen. Obwohl sein Arbeitstag eng getaktet ist, wirkt er in diesem Moment, als hätte er alle Zeit der Welt. Dabei sind es maximal 40 Minuten. Rechts und links der Hauptallee reiht sich unter hohen, alten Bäumen Grab an Grab. Manche geben mehr Informationen über die Toten Preis, andere weniger. Auf einem Grabstein sitzen zwei weiße, steinerne Tauben. Anderswo wacht ein Engel über eine mit Blumen bepflanzte Schale. Auf einem Stein ist lediglich der Familienname festgehalten: Fleisch. Pastor Pörtner ist diesen Weg seit 2015 schon häufig gegangen. Vielleicht schweifen seine Gedanken gerade ab, hin zu den Einkäufen, die er später am Tag noch erledigen will. Oder zu dem jungen Paar, das er noch trauen könnte. „Gibt es auch schon mal, Beerdigung und Hochzeit an einem Tag“, hatte er beim Vorgespräch erzählt. Wie geht er damit um? Da bedürfe es professioneller Distanz, erklärt der Gottesmann. Aber er sei, zugegeben, auch nicht bei jeder Beerdigung tief betroffen. Ansonsten hält er es mit dem Apostel Paulus: „Freut euch mit den Fröhlichen und trauert mit den Traurigen.“

Wie für jeden anderen Pfarrer gehören auch für Stephan Pörtner Beerdigungen zu seinem Arbeitsalltag. In der Regel absolviert er ungefähr eine pro Woche. Natürlich werde er da ab und zu mit Bildern konfrontiert, die man nur schwer wieder los wird. Einige Tage bevor Maria Luzia L. auf dem Südfriedhof zu Grabe getragen wird hat Pörtner eine 44-Jährige beerdigt. „Da stand dann ihr 10-jähriger Sohn weinend am Grab“, erinnert er sich. „Das berührt einen natürlich mehr, als wenn man einen 92-Jährigen bestattet, der friedlich eingeschlafen ist.“ Das Ritual auf dem Südfriedhof ist naturgemäß relativ nüchtern. Keine persönlichen Worte. Keine Blumen. Keine Musik. Vor allem aber keine Menschen, die sich gemeinsam der Verstorbenen erinnern. Die sich im Arm halten, sich gegenseitig Trost spenden.

Foto: Markus Luigs

Nach einigen Minuten hat der Elektrowagen Feld 9c nahe dem Hochkreuz erreicht. Auf dem dortigen Urnenfeld ist schon alles für die nächsten Beerdigungen vorbereitet. Circa ein Meter tief ist das Loch, das für die Urne von Maria Luzia L. ausgehoben wurde. Neben der Grube steht ein schwarzer Eimer. Pörtner spricht die Worte, die er in dieser Umgebung vermutlich immer spricht: „So übergeben wir den Leib der Erde.“ Der Friedhofsangestellte lässt behutsam die Urne im schwarzen Netz herabgleiten und tritt dann in den Hintergrund. Hände auf Höhe der Gürtelschnalle ineinandergelegt. Klassische Sargträger-Geste, lernt man vielleicht in der Ausbildung. Pastor Pörtner schaut, den Kopf um 45 Grad geneigt, auf das, was von Frau L. blieb. Abermals nimmt er das Aspergill zur Hand, um die nunmehr im Grab versenkte Urne zu benetzen. Über ihm schreit ein Vogel viel zu laut. „Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück“, spricht der Pastor und greift sich eine Hand voll Erde aus dem schwarzen Eimer. Ein „Vater unser“ noch, ein „Gegrüßet seist du Maria“. Dann tritt der Friedhofsangestellte hinzu, um das Loch zuzuschaufeln. 20 Jahre dauert die ewige Ruhe für Maria Luzia L. So lange kann ihre Urne auf dem Feld 9c bleiben.

Ansonsten ist es auf dem Friedhof wie beim Fußball. Es gilt das Motto „Nach der Beerdigung ist vor der Beerdigung“. Kaum, dass das Grab von Maria Luzia L. zugeschüttet ist, präpariert der Friedhofsangestellte schon die Nachbargrube für die nächste Bestattung. Pastor Pörtner muss sich verabschieden. Ein Termin. Auf dem Weg zurück zum Haupteingang passieren wir erneut das Grab mit der Inschrift „Fleisch“. Kurz darauf kommt uns der Elektrowagen mit der nächsten Urne entgegen. Auch ihr folgen weder Freunde noch Verwandte. Nur ein Kollege von Pastor Pörtner. Ihm war der Fußweg von der Kapelle zum Feld 9c offenbar zu weit. Deshalb hat er das Auto genommen.

1 Kommentar

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Eigentlich tieftraurig wenn ein Mensch seinen letzten Gang alleine machen muss. Natürlich könnte man rein rational anmerken, daß der/die das eh nicht mehr merkt. Aber es bleibt doch Wehmut, wie einsam Menschen sterben können.
Zum „Glück“ hatten wir das noch nicht, wir konnten das immer vermeiden.
Hart war der Fall einer Fortuna Fan Freundin, die ihren Kampf gegen Krebs verloren hatte und deren Angehörigen / Schwester nicht willens war, sich um die Beerdigung zu kümmern.
Da wir das wussten, hatten wir bereits reichlich gesammelt und wollten alles bezahlen. Aber da war eine unausgesprochene Zwist zwischen den Schwestern und so musste das Ordnungsamt / die Stadt ran.
Und dort kannte man es nicht , daß „Fremde“ sich um eine Beerdigung kümmern wollte. Was nicht vorgesehen ist und seitens des Amtes auch nicht gewollt.Nach vielen hin & her haben wir es trotzdem geschafft, „ihr“ eine Fortuna Urne zu verschaffen und auch den Termin der „Anonymen“ Beerdigung zu erfahren. Und so sind wir mit vielen Freunden & Fans auf ihren letzten Weg bei ihr gewesen.
Alternativ hätte sie ihren letzten Gang auch alleine machen müssen

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