Vera Vorneweg im Interview – „Gegen die Geschlossenheit anschreiben“

Mit „Ellerstraße/Oberbilk“ hat die Schriftstellerin Vera Vorneweg eine der faszinierendsten künstlerischen Arbeiten im öffentlichen Düsseldorfer Raum geschaffen. Auf den braunen Rollläden der lang schon geschlossenen Kneipe „Zum Blauen Bock“ prangt seit Juli ein literarischer Text von ihr. Eine leise, zarte Arbeit, für die die 36-Jährige Szenen aus dem Viertel festgehalten hat. theycallitkleinparis hat mit Vorneweg gesprochen.

Vera, war die Idee, mit Text in den öffentlichen Raum zu gehen, der Pandemie geschuldet?
Die Idee, Orte im öffentlichen Raum zu beschriften, hatte ich schon vor Corona. Im Zuge der Pandemie habe ich dann überlegt, wie ich mein Geschriebenes anderen zugänglich machen kann. Die Streetpoesie an der Ellerstraße ist im besten Sinne ein niedrigschwelliges Angebot. Man könnte es direct trade nennen. Von der Straße für die Straße. Es gibt keinen Zwischenhändler. Es muss nicht gekauft werden. Es muss nicht bezahlt werden. Es muss noch nicht mal gelesen werden. Anschauen reicht.

Ist „Ellerstraße/Oberbilk“ deine erste Textarbeit im öffentlichen Raum?
Nicht wirklich. Vorher sind bereits drei, vier andere Arbeiten im öffentlichen Raum entstanden. Das waren aber eher Versuche, Experimente. Die erste Fläche, auf die ich Text aufgebracht habe, war ein Baumstamm im Eller Forst. Ich wollte ausprobieren, wie es ist, nicht auf Papier zu schreiben, sondern auf einen anderen Untergrund. Die Arbeit heißt „Ein Baum ist kein Baum“. Danach habe ich einen großen Stein beschrieben, direkt am Rheinufer, in der Nähe des Fortuna-Büdchens. Die Arbeit heißt „Ein Stein ist kein Stein“. Und auf eine Wand der Hall of Fame an der Vennhauser Allee habe ich auch vor einiger Zeit Text aufgebracht. Der war allerdings innerhalb von einer Woche schon wieder übersprüht. Dass das so schnell ging, fand ich natürlich schade.

Sind die Texte noch zu sehen?
Bei dem Baum kann man, wenn man es weiß, noch erahnen, dass da mal Text drauf war. Aber die Geschichte ist nicht mehr lesbar. Die Schrift sieht mittlerweile eher aus wie Schimmel. Der Stein war zuletzt, glaube ich, wegen des Hochwassers überschwemmt.

Wie kamst du dann auf die Rollläden von „Zum Blauen Bock“ als Untergrund?
Der Ort ist per Zufall zu mir gekommen. Ich hatte eigentlich ein anderes Objekt auf der Friedrich-Ebert-Straße im Auge. Das war ein zugenageltes Ladenlokal – und ich wollte gerne auf die Bretter schreiben. Der Hausbesitzer fand meine Idee zwar interessant, wollte das aber an der Stelle nicht, sondern hat mir das Haus in Oberbilk vorgeschlagen, das ihm ebenfalls gehört. Das mit den Rollläden war seine Idee, da möchte ich mich keinesfalls mit fremden Federn schmücken. Ich habe mir das Haus angeschaut – und zugesagt. Der Untergrund war für mich unter anderem deshalb praktisch, weil durch die Lamellen die Linien vorgegeben sind. Meine nächste Arbeit werde ich übrigens auch auf Rollläden schreiben, wieder in Oberbilk. Dabei gefällt mir der Gedanke, gegen die Geschlossenheit anzuschreiben, den Leerstand zu ästhetisieren und durch das Geschriebene vielleicht Begeisterung zu stiften.

Beim Aufbringen der Schrift auf die Rollläden, Foto: Werner Kunze

Wie bist du beim Erstellen des Textes vorgegangen?
Ich war im Juni und Juli diesen Jahres acht bis zehn mal vor Ort auf der Ellerstraße, immer zu unterschiedlichen Uhrzeiten. Morgens passiert ja etwas anderes als abends oder mittags. Ich saß vor dem Hauseingang mit meinem Notizbuch und meinem Füller, in kompletter Offenheit. Alles, was dann passierte, konnte für mich von Interesse sein. Viele Menschen sprachen mich an, erzählten mir zum Teil sehr intime Dinge. Schnipsel aus diesen Gesprächen finden sich in dem Text, den ich aufgebracht habe, wieder. Insgesamt habe ich allerdings versucht, in der Straße zu verschwinden. Aber natürlich bin ich trotzdem sichtbar geblieben mit meinem aufgeschlagenen Notizbuch und meinem Füller. Ich habe zunächst handschriftliche Notizen gemacht, die ich später zuhause digitalisiert habe. Dabei habe ich sie in eine bestimmte sprachliche Form gebracht – und im Anschluss hat noch mal ein Lektor drüber geschaut. Erst danach habe ich die Texte auf die Rollläden aufgetragen.

Was war dir bei dem Text wichtig?
Grundsätzlich wollte ich einen Text verfassen, der nicht ausschließlich als zusammenhängende Geschichte funktioniert, sondern bei dem es auch ausreicht, Schnipsel zu lesen. Mir war klar, dass niemand Zeit hat, das komplett zu lesen. Es ist dann primär Geschautes geworden, ich versuche immer, das Wort Beobachtungen zu vermeiden. Schauen hat für mich eher eine Weitwinkel-Perspektive. Mir gefällt der Gedanke, keine Geschichte erzählen zu müssen. In der Literaturszene werden ja nur noch Romane und Erzählungen veröffentlicht. Der spielerische Umgang mit Sprache gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. Vermutlich auch, weil es dafür nicht genügend Abnehmer gibt. Ist ja auch schwieriger zu lesen. Ich für mein Teil habe gerne ein Thema und kreise es mit Sprache ein. Dabei habe ich nicht den Anspruch, dass eine Geschichte entstehen muss.

Wie stark verfremdest du das, was du geschaut hast, während des Schreibprozesses?
Vieles ist eins zu eins das, was ich wahrgenommen habe. Wobei: Wie funktioniert meine Wahrnehmung? Was sehe ich, was sehe ich nicht? Es gibt ja immer zahlreiche Parallelmomente. Es geht ein Mann vorbei, weiter hinten schreit ein Kind und ein rotes Auto hupt. In dem Moment muss ich mich als Autorin entscheiden, worüber ich schreibe. Ich würde mich im Zweifelsfall immer für den Menschen entscheiden. Und zu deiner Frage: Oft kommt im Nachhinein, beim Digitalisieren, noch etwas dazu. Ein Einfluss aus der Nicht-Realität. Das macht mich als Schreibende sichtbar, weil es etwas von meinen Gedanken offenbart.

Im Gespräch mit Passanten, Foto: Werner Kunze

Die Passanten konnten dich beim Aufbringen der Schrift auf der Ellerstraße beobachten. Wie haben sie reagiert?
Viele Menschen haben sich mir geöffnet, mir intimste Erlebnisse erzählt. Lebensgeschichten, Brüche, Schicksale. Sie haben mir als Schreibender vertraut. Ich war wie ein Schwamm, konnte einfach nur aufsaugen. Je mehr Text aufgetragen war, desto mehr verknüpften die Menschen mich mit dem Geschriebenen und desto häufiger wurde ich angesprochen. Witzigerweise gab es auch Leute, die dachten, ich sei eine Bettlerin. Weil ich da so saß mit meinem Rucksack. Einmal hat ein Mann sogar Anstalten gemacht, mir Geld zu geben. Ich habe ihm daraufhin erklärt, dass das nicht nötig ist, dass ich fürs Schreiben bezahlt werde.

Gibt es Menschen, die du im Rahmen deiner Arbeit kennengelernt hast, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?
Es gab eine Gruppe von jungen Männern, die aus Syrien zu uns nach Deutschland gekommen sind und die mich wegen der in den Text integrierten arabischen Elemente angesprochen haben. Sie haben mir erzählt, dass sie schon seit fünf Jahren in Deutschland sind, sich aber immer noch sehr fremd fühlen und gefragt, ob ich nicht ihre Namen auf die Rollläden aufbringen könnte. Ursprünglich wollte ich konkrete Namen eher vermeiden, den Text möglichst allgemeingültig halten. Aber in dem Fall habe ich dem Wunsch entsprochen. Die jungen Männer haben sich sehr darüber gefreut. Sie sind auch zur Vernissage gekommen und haben dort geholfen. Das hat mich sehr beeindruckt, zumal wir uns vorher nur zweimal gesehen hatten.

Mittlerweile ist die Arbeit schon einige Wochen alt. Was mich erstaunt, ist, dass sie bisher nicht beschädigt oder besprüht wurde. Das war ja anfangs, zugegeben, meine Sorge.
Ein Freund hat zu mir gesagt: „In dem Moment, wo du der Arbeit den Rücken kehrst, muss du loslassen.“ Aber natürlich hatte auch ich Sorge, dass die Arbeit vielleicht übersprüht wird. Wenn das so passiert wäre, hätte ich das Gesprühte vermutlich einfach wieder überschrieben. Umso besser, dass die Arbeit bisher komplett unbeschädigt ist. Der Hausbesitzer hat mich allerdings darauf vorbereitet, dass er irgendwann die Kneipe sanieren wird. Spätestens dann wird die Arbeit also verschwinden. Den Kneipenraum hat er übrigens einer Künstlerin, die im Haus wohnt, zur Verfügung gestellt. Kostenlos.

Lass uns mal zu deiner Entwicklung als Autorin kommen. Wie und wann bist du zum literarischen Schreiben gekommen?
Ich habe immer schon geschrieben. Aber das sagen ja viele von sich. Als Jugendliche habe ich Tagebuch geschrieben, später dann Gedichte, ganz kurze. Mittlerweile fühle ich mich eher in der Prosa beheimatet, in den langen Texten. Als ich nach dem Abitur Soziale Arbeit an der damaligen FH studiert habe, habe ich einen Schreib-Workshop bei Swantje Lichtenstein gemacht. Sie hat gesagt: „Kauft euch einfach ein leeres Heft und schreibt jeden Tag was.“ Das habe ich gemacht. Vielleicht war das die Initialzündung. 2018 habe ich mein erstes Stipendium bekommen, als Dorfschreiberin in einem 400-Seelen-Dorf in Thüringen. Als ich von dort zurück nach Düsseldorf kam, habe ich überlegt, wie kann ich die Stadt beschreiben, ähnlich wie ich es vorher mit dem Dorf gemacht habe. Ich bin dann mit den hiesigen U-Bahnen bis zu allen Endhaltestellen gefahren – und habe über die Fahrt und über die Endhaltestellen geschrieben. Dabei habe ich mich gedanklich so programmiert, als würde ich auf Reisen gehen. Auf diese Art habe ich interessante Orte und spannende Menschen kennengelernt. Mittlerweile habe ich fast alle U-Bahnlinien durch. Drei fehlen mir noch.

Du hast an der Düsseldorfer FH Soziale Arbeit studiert. Übst du den Beruf noch aus?
Nein, mittlerweile nicht mehr. Seit 2018 bin ich freie Schriftstellerin und lebe vom Schreiben. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, musste ich mit den Konsequenzen leben. Das hat natürlich zunächst mal eine gewisse Unsicherheit mit sich gebracht. Es hat dann aber sehr schnell mit Stipendien geklappt und seitdem geht mehr oder weniger ein Stipendium in das andere über – und ich kann mich voll aufs Schreiben konzentrieren. Das empfinde ich als großen Luxus.

Du hast es eben schon erwähnt. Es wird auch eine neue Schreibarbeit von dir im öffentlichen Raum geben. Und sie ist wieder in Oberbilk. Wo genau?
Auf der Kölner Straße Ecke Markenstraße. Ein leerstehendes Büdchen. Auch mit Rollläden.

Wie hast du den Ort gefunden?
Als ich die Ellerstraße fast abgeschlossen hatte, hatte ich schon einen neuen Ort im Kopf. Die alte Tankstelle am Stresemannplatz. Ich habe versucht, herauszufinden, wem die Räume gehören, unter anderem habe ich einen Mitarbeiter des benachbarten Erotikshops „Erdbeermund“ gefragt. Der hat mich an einen Backwaren-Laden verwiesen. Dort hieß es: „Du musst dich einfach auf die Straße stellen. Der Typ, dem die Räume gehören, läuft jeden Tag hier rum – und irgendwann triffst du ihn.“ Ein Passant gab mir letztendlich den Tipp, mich zu einem Café auf der Markenstraße zu begeben, dort würde ich den Besitzer der ehemaligen Tankstelle finden. Der Typ war aber in dem Café komplett unbekannt. Aber direkt neben dem Café fand ich besagtes Büdchen. Und der Besitzer war gleich bereit, es für meine Arbeit zur Verfügung zu stellen.

Wann wirst du mit der Erstellung beginnen?
Ich bin an dem neuen Ort genauso vorgegangen wie an der Ellerstraße. Mittlerweile bin ich schon dabei, den Text auf die Rollläden aufzutragen. Bevor es richtig kalt wird, soll die Arbeit fertig sein.

Neben den Arbeiten im öffentlichen Raum wird von dir in Kürze auch eine Erzählung veröffentlicht. Worum geht es in der Geschichte?
Die Erzählung heißt „Kein Wort zurück“ und wird Ende des Jahres im Wartburg Verlag erscheinen. Der Text ist zum großen Teil während meiner Zeit als Dorfschreiberin in Kaltenlengsfeld in Thüringen entstanden. Eigentlich sollte es eine Art Dorfroman werden, eine Sammlung der Geschichten, die ich im Dorf erlebt habe. Ich hatte schon mit dem Schreiben begonnen. Eine Lesung in Brandenburg änderte dann meine Pläne. Dort war damals gerade Wahlkampf. Ich bin durch Dörfer gefahren, in denen an jedem Laternenmast ein AfD-Plakat hing. „Schreib Geschichte“ war einer der Slogans auf den Plakaten, im Hintergrund eine Deutschlandfahne. Mit diesem Satz, der eigentlich auf mich zutraf, wollte ich plötzlich nichts mehr zu tun haben. Das hat mich sehr erschüttert. Auch das Wort „Heimat“ war von den Rechten vereinnahmt worden. Darüber musste ich schreiben. Dementsprechend hat sich die komplette Story verändert.

Die Düsseldorfer Literaturszene gilt schon seit vielen Jahren als eher schwach auf der Brust. Wie nimmst du das wahr, auch im Vergleich zu anderen umliegenden Städten?
Wenn man in Köln zu Literaturveranstaltungen geht, trifft man dort 50 Leute zwischen 20 und 30, die sich begeistert Texte vorlesen. Eine solche Szene habe ich hier in Düsseldorf noch nicht gefunden. Liegt vielleicht unter anderem daran, dass man an der KHM seit einiger Zeit „Literarisches Schreiben“ studieren kann. Hier in Düsseldorf gibt es natürlich auch tolle Literaturveranstaltungen. Aber eine Subkulturszene kann ich nicht ausmachen. Die Szene ist sowieso kaum noch vorhanden. Es gibt nur wenige Anlaufstellen, die sich halten konnten. Das WP8 zum Beispiel. Aber wo ist die Brause? Wo ist das damenundherren? Solche Orte sollten von der Stadt stärker gefördert werden. Ohne solche Orte kann eine entsprechende Szene nicht entstehen.

Vera Vorneweg ist am 31.10. ab 15 Uhr zu Gast bei „In die Leere #2: Peripherie“. Anmelden kann man sich unter salut@theycallitkleinparis.de.

Die Arbeit „Ellerstraße/Oberbilk“ ist an der Ellerstraße 173 zu finden.
Die neue Arbeit von Vera Vorneweg entsteht an dem ehemaligen Büdchen an der Kölner Straße Ecke Markenstraße.

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