Marlin de Haan im Interview – „Solidarität ist auf meiner Werteliste ganz oben“

Marlin de Haan hat schon länger nicht mehr an einer Demo teilgenommen. Sie äußert ihren Protest anders. Mit ihrer Kunst. De Haan ist Regisseurin und bildende Künstlerin. In beiden Sparten arbeitet sie derzeit gerne im öffentlichen Raum. So auch bei ihrer Version von Anton Tschechows „Der Kirschgarten“, die Mitte Oktober auf der Kiefernstraße Premiere feiert. theycallitkleinparis hat mit Marlin de Haan gesprochen.

 

Für alle, die keine humanistische Bildung genossen haben: Worum geht es in Anton Tschechows „Der Kirschgarten“?
Für mich geht es im „Kirschgarten“ um einen Ort, zu dem Menschen eine persönliche Beziehung haben, aber völlig verschiedene Vorstellungen, was damit passieren soll. In Tschechows „Kirschgarten“ – der im Stück übrigens niemals betreten wird – soll dieser verkauft, parzelliert und gewinnbringend weiterverkauft werden. Es sollen Sommerhäuschen für Leute aus der Stadt gebaut werden. Er wird dann auch tatsächlich verkauft, die Bewohner ziehen aus, sind teilweise auch sehr erleichtert, dass endlich eine Entscheidung da ist, und die Sägearbeiten im Garten beginnen. Einer bleibt. Weil man ihn vergessen hat oder weil er nicht weiß, wohin. Oder absichtlich.

Das Stück stammt aus dem Jahr 1903. Wie aktuell ist der Stoff heute beziehungsweise wie schlagt ihr eine Brücke zum Hier und Jetzt?
Wir beschäftigen uns mit Raumbedarf und Stadtentwicklung. Tschechows Stück dient uns als Basis, bei unserem Stück geht es aber um unsere eigenen Auseinandersetzungen mit Orten und Räumen. Wir spielen unseren eigenen Kirschgarten. Wir haben Fragebögen verschickt, um herauszufinden, wo die persönlichen Bezüge zum Hier und Jetzt sind. Die Stadtgeschichte spielt dabei ebenfalls eine Rolle, ausgehend von der Hausbesetzer-Szene in den 80ern, eine gemeinsame Aktion, um Bestand zu erhalten, um Sanierungen voranzutreiben und um Orte für Gemeinschaft, Kunst und Kultur einzufordern. Unser „Kirschgarten“ ist ebenfalls eine gemeinsame Aktion und stellt eine solche damit gleichzeitig zur Diskussion.

Aufführungsort ist in diesem Fall kein Theater, sondern der öffentliche Stadtraum. Vor einigen Wochen hast du bereits zwei Ausstellungen organisiert, die ebenfalls draußen stattfanden. Was reizt dich als Künstlerin und Regisseurin daran?
Die Interaktion von Kunst und Betrachter. Die direkte Begegnung.

Ist der Gang nach draußen auch als politisches Statement gemeint, im Sinne von „Wir holen uns die Stadt zurück“?
Mein Statement wäre eher: „Schafft Freiräume! Für Kunst, Kultur und Kirschgärten!“ Indem ich Ort und Projekt zusammenbringe, kann ich viel direkter und konkreter eine thematische Auseinandersetzung einfordern.

Transparente malen, Foto: Christian Ahlborn

Man könnte das Stück also künstlerischen Protest nennen. Was den klassischen Protest angeht, habe ich den Eindruck, dass sich einige Menschen gerade von ihren geistigen Sofas erheben und auf der Straße Stellung beziehen. Gegen rechts. Oder gegen die Abholzung des Hambacher Forsts. Wann warst du das letzte Mal bei einer Demo?
Ich war mit meiner Schulklasse, 5. oder 6. Klasse, auf einer Demo gegen den Golfkrieg. Da sind wir mitgelaufen und ich hatte keine Ahnung, warum wir ständig „Internationale Solidarität“ riefen und was das heißen sollte. Ich mache jetzt seit 15 Jahren Kunst- und Kulturprojekte. Das ist meine Art, Stellung zu beziehen. Will sagen, welche Kommunikationsform auch immer man wählt, Hauptsache, man fühlt sich angesprochen und, besser noch, man setzt sich für die Dinge ein, die einem selbst und anderen wichtig sind. Was Solidarität heißt, weiß ich nämlich inzwischen. Auf meiner Werteliste ist das ganz oben mit dabei. Und irgendwie hat man ja auch fast täglich damit zu tun.

Für eure Produktion habt ihr einen Fragebogen entwickelt, den ihr im Vorfeld an Düsseldorfer verschickt habt. An was für Menschen habt ihr den adressiert?
Ich selbst habe den Fragebogen an Freunde und Kollegen, aktive Düsseldorfer, thematisch verbundene Vereine und Initiativen geschickt. Sie alle haben wir gebeten, die Fragen ihrerseits weiterzuleiten. Die Menge derer, die daran beteiligt sind, haben also nicht wir beeinflusst. Wir haben nur initiiert, dass das Thema auf diese Weise zu möglichst vielen ins E-Mail-Postfach gelangt. Geantwortet haben über dreißig. Deren persönliche Ansichten und Anliegen, Bilder und Wörter fließen in das Projekt mit ein.

Und was wolltet ihr von ihnen wissen?
Wir haben die Adressaten unter anderem gefragt, welche Orte ihrer Ansicht nach unbedingt bewahrt werden müssen. Ob sie schon einmal einen Ort besetzt haben. Oder was ihnen ein wichtiges Anliegen ist in der Stadt, in der sie leben.

„Der Kirschgarten“ wird auf der Kiefernstraße aufgeführt. Wie haben die Bewohner der Straße auf euer Vorhaben reagiert, bedurfte es da großer Überzeugungsarbeit?
Wie würde man wohl selbst reagieren, wenn jemand klingelt und sagt, ich möchte hier gerne ein Theaterstück aufführen und kann ich hier zweimal am Abend mit 25 Leuten durch deinen Hausflur? Auf der Kiefernstraße wohnen über 600 Menschen. Die mussten erst einmal erreicht werden. Dabei haben mich Harald Schwenk und Ben Lowinski, die auf der Kiefernstraße wohnen, sehr unterstützt.
Ich habe den persönlichen Kontakt gesucht, das Projekt vorgestellt, Treffen organisiert. Ich wurde zu Treffen eingeladen, habe E-Mails verschickt, Zettel aufgehängt und einmal wöchentlich im Kinderclub auf der Kiefernstraße arbeiten dürfen. Ich musste ja selbst den Ort und die Kommunikationsebenen und -vorgänge erst einmal kennen lernen. Das ist alles in allem ein sehr bereichernder Prozess gewesen und die Unterstützung ist inzwischen vielfältig. Der „Kirschgarten“ ist eine gemeinsame Aktion und mir ist sehr wichtig, dass der Ort dabei selbst Aktions-Raum für sich sieht. Der „Kirschgarten“ auf der Kiefernstraße bedeutet eine gemeinsame Auseinandersetzung und die Möglichkeit, Öffentlichkeit zu erreichen. Inzwischen habe ich dort viele neue Projektpartner gefunden. Theater ist ja immer ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem auch die Zuschauer als Interagierende eine wichtige Rolle einnehmen. Das Inszenieren, der geteilte Moment und auch die Frage nach der Nachhaltigkeit von einem Theaterprojekt – was all das angeht, lerne ich gerade viele neue Facetten kennen. Über Plakate kommunizieren wir aber auch über die Kiefernstraße hinaus in den Stadtraum hinein. Und auch mit anderen Orten in der Stadt, die mal besetzt waren oder es eigentlich heute sein müssten, haben wir uns beschäftigt.

Wer gehört zu dem Team, das das Ganze realisiert?
Die Inszenierung „Der Kirschgarten“ ist der theatrale Rahmen, die Erzählebenen sind verschieden: Installation, Video, Text, Spiel, Interaktion. Dafür arbeite ich mit der Medienkünstlerin Parisa Karimi, dem Bühnen- und Kostümbildner Jan Patrick Brandt und der Autorin Charlotte von Bausznern zusammen. Das Material, mit dem wir arbeiten, haben wir aus Gesprächen mit Anwohnern der Kiefernstraße, den Antworten aus den Fragebögen, Workshops im Kinderclub, Tschechows Stücktext und der allgemeine Recherche zusammengetragen. Drei Performer und mehrere Helferlein sowie Technikpersonal ergänzen das Team „Kirschgarten“. Die Interaktion findet jetzt schon statt und wird letzten Endes auch die Zuschauer mit einbeziehen. Öffentlicher Raum – Privatraum – Theaterraum – Freiraum: Wäre doch schön, wenn man hinterher weiß, wo man ist und wo man jetzt gerade sein will und vielleicht auch noch wofür.

18.-20.10., jeweils 19 und 20.15 Uhr, K4 Kulturbureau, Kiefernstr. 4, Düsseldorf, Karten gibt es hier.

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