half past selber schuld im Interview – „Unser neues Hobby ist Revolution“

Ihr jüngstes Stück mit dem Titel „The Last Mortal“ konnten half past selber schuld Ende Januar gerade noch zur Premiere bringen. Dann kam der Lockdown und mit ihm die erzwungene Bühnenpause. Wie viele andere Künstler mussten auch Ilanit Magarshak-Riegg und Sir ladybug beetle die Füße still halten, in sich gehen und überlegen, wie es weitergehen kann. Mit der Kunst. Und mit dem Leben. Nun biegt das deutsch-israelische Künstlerduo, das seit 22 Jahren gemeinsame Sache macht, mit neuen Projekten um die Ecke. theycallitkleinparis hat mit ihnen darüber gesprochen.

Wenn wir heute vor einem Jahr gesprochen hätten, was hättet ihr für das Jahr 2020 für Pläne gehabt?
Nichts Geringeres als der Weltruhm stand auf dem Plan. Wir hatten vor, mit unserem englischsprachigen Stück „The Last Mortal“ auf Tour zu gehen, um es an möglichst vielen Orten dieser Welt zu zeigen. Ein weiterer Plan war, in internationaler Kooperation einen Puppenkurzfilm zu drehen. Mit Mitteln und Unterstützung von Handmade Puppet Dreams, einer Organisation unter der Leitung von Jim Hensons Tochter Heather, stand ein etwas aufwendigerer Film unserer tapferen Nanobots auf dem Zettel.

Und wie ist es dann gekommen? Wie war euer Jahr bisher? Wie seid ihr durchgekommen, zum einen künstlerisch, zum anderen finanziell?
Festivals ausgefallen. Tour gestrichen. Film abgeblasen. Weltruhm verschoben. Wir hatten aber noch vergleichsweise Glück. Immerhin konnten wir unser Bühnencomic kurz vor dem Lockdown zur Premiere bringen und Anfang des Jahres zumindest unserem Düsseldorfer Publikum zeigen. Es ist allerdings ein wenig spooky, sich die Aufzeichnung im Nachhinein anzusehen, weil im kompletten Stück neben Lachern, Szenenapplaus und ehrfürchtigem Raunen auch etliche Huster des Publikums zu hören sind, die sich heute irgendwie gänzlich anders anfühlen als noch im Februar.
Die Filmproduktion ist natürlich ebenfalls gestrichen. Die Fördermittel bleiben wegen der Situation ohnehin in den USA. Ist nicht so schlimm, denn zur Zeit wäre sowieso nur Kasperletheater möglich, und dann vermutlich nur Monologe. So etwa: „Ich frage mich, wo die Großmutter, das Krokodil und der Teufel heute nur sind? Ach, wie gern hätte ich sie alle totgeschlagen…“ Nicht wirklich unser Ding, wobei wir gestehen müssen, dass sich das gar nicht mal so schlecht anhört. Okay. Kasperle Monologe. Notiert! Vielleicht 2021! Ist da noch Pandemie?
Bis jetzt sind wir eigentlich ganz gut durchs Jahr gekommen, da wir uns in der privilegierten Situation befinden, Spitzenförderung des Landes NRW zu erhalten. Allerdings mussten wir unsere Projekte, unser Bau- und Produktionsverhalten den neuen Bedingungen anpassen, sodass es nun stattdessen ausschließlich kontaktlose Kunst gibt: Team-lose Filme, Schattenkreationen, Musik. Aber auch Zeit für Experimente. Unsere Werkstatt hat jedenfalls für die nächste Zeit eher keine Menschenaufläufe zu erwarten.

Konntet ihr der Pandemie auch Positives abgewinnen?
Durchaus. Wenn man es schafft, das große Leid und die tragischen Schicksale der Betroffenen auszuklammern. Wir konnten jedenfalls erst mal durchatmen und endlich ein paar Sachen der Kategorie „Wir wollten schon immer“ machen. Außerdem, globaler gesehen, haben wir und auch weite Teile der Gesellschaft aufgrund der Vollbremsung die Möglichkeit bekommen, in Ruhe auf alles zu schauen und sich zu positionieren. Natürlich nur gesetzt den Fall, die Grundversorgung ist gesichert und man arbeitet nicht in einem systemrelevanten Beruf. Dass der Kapitalismus mal zwangspausieren musste und sein Gesicht etwas genauer zeigt, ist sicherlich nicht nur schlecht. Ewiges Wachstum ist ohnehin ein recht nerviger Plan, der ziemlich undurchführbar ist bei nachweislich begrenzten Ressourcen der Erde.
Ein weiterer Punkt der Pandemie ist, dass die ganze Welt gleichzeitig mit demselben Problem konfrontiert wurde. Wir könnten dadurch eigentlich etwas näher zusammenrücken. Leider scheint es auch bei der Aluhut-Trottel-Entstehung hilfreich zu sein. Jedenfalls müssen sich alle damit auseinandersetzen, was wichtig ist und was nicht. Viele Menschen wurden auch dadurch politisiert. Das ist positiv. Es wäre aber schön, wenn allen das Offensichtliche klar würde, nämlich dass der Postbote, die Krankenschwester, der Müllmann und die Wurstfachverkäuferin einen relevanteren Job machen als zum Beispiel der Profifußballer, der Immobilienhai oder die Werbefachfrau. Und dass das auch entsprechend honoriert werden müsste. Das alles sollte durch die Pandemie eigentlich noch deutlicher geworden sein.

Viele haben sich während des Lockdowns neue Hobbys zugelegt. Wandern. Gärtnern. Oder Backen. Und ihr so?
Gärtnern war schon immer irgendwie unser Ding. Aber unser neues Hobby ist Revolution. Nicht, dass wir uns nicht schon früher mit Politik beschäftigt hätten, aber die Situation der Welt ist so zum Kotzen, dass das bequeme Desinteresse leider keine Option ist. Ein Umbruch der Gesellschaft steht an, und wir als Künstler – natürlich mittendrin. Sollten wir zumindest sein. Ja, puh, schwierig!

Foto: half past selber schuld

Nun biegt ihr mit gleich drei Neuigkeiten um die Ecke. Die erste davon betrifft eine neue Instagram-Seite, die ihr ins Leben gerufen habt. so_much_rong heißt sie. Was genau soll dort passieren?
Das erste Bild, das wir dort einstellten, umschreibt ganz gut unsere Motivation und unsere Unwissenheit, wohin diese Seite eigentlich genau gehen wird. Auf einem Schild steht da geschrieben: „So much wrong. I don‘t know where to even start.“
Dabei ist die Rechnung einfach. Weltweit Diktaturen + Freunde auf der ganzen Welt = große Sorgen. Nicht nur in Israel, den USA, Belarus oder Hongkong, an vielen Orten steigt man auf die Barrikaden und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Wir möchten das unterstützen. Und in Corona-Zeiten tun wir dies aus der Isolation heraus. Mit unseren momentanen künstlerischen Mitteln versuchen wir daher, unserem Bedürfnis nachzukommen, gegen bestehende Verhältnisse zu meckern, uns mit den Protestierenden zu solidarisieren und eine bessere Welt einzufordern.

Am 11.11. starten auf eurem YouTube-Kanal die „spaceships with opinions“, die Fans noch aus eurem letzten Stück „The Last Mortal“ kennen, als Serie.
Zugegeben, etwas nerdiger Humor. Aber: liken und kommentieren. Und selbstverständlich weiterleiten. Eine Woche lang kann man sich täglich eine neue Folge reinziehen.

Und im Dezember soll es dann ein neues Album geben. Das zweite in 22 Jahren eures Bestehens. Warum habt ihr euch dafür entschieden, in dem Fall noch mal ohne Filme, ohne Puppen ohne Kostüme auszukommen?
Mit Puppen Instrumente zu spielen ist echt sauschwierig. Nein, im Ernst: In unseren Schubladen befindet sich Musik für mindestens zehn weitere Alben. Im Grunde ist es also sehr naheliegend und auch höchste Zeit, dass wir da mal was veröffentlichen. Die Musik ist ein Element, das wirklich konsequent bei allen Produktionen eine Hauptrolle spielt. Im Prinzip funktionieren unsere Theater-Soundtracks auch sehr gut ohne Bilder oder Bühnengeschehen. Aber in Produktionszeiten muss sich die Musik irgendwann den Szenen beugen, länger oder kürzer werden, um zum Beispiel zu einer bestimmten Schrittanzahl zu passen, oder sie muss ein albernes Geräusch dazu bekommen, um einen Effekt zu unterstreichen. Das Auge hört ja bekanntlich mit. Oder eher das Ohr schaut mit drauf? Jedenfalls nehmen wir für das Album ein bisschen Theater aus der Musik, um es auch ohne das Auge anhören zu können. Eigentlich gibt es deshalb bei jeder Produktion den Gedanken, die Musik gesondert zu produzieren und ein Album daraus zu machen, aber irgendwie fehlt es dann immer an Zeit, dies auch wirklich zu tun. Jetzt gab es endlich einmal diese Zeit… Ha! Da hätten wir ja noch einen positiven Punkt der Pandemie. Und direkt ein Minuspunkt hinterher: Da sich in den vergangenen Wochen erneut die Situation geändert hat, typisch 2020, kann es gut sein, dass das Album doch erst im Frühjahr 2021 veröffentlicht wird.

Das Album beschäftigt sich thematisch mit der Zukunft der Menschheit. Um welche Themen geht es euch konkret?
Im Prinzip basiert es thematisch auf unseren letzten beiden Bühnencomics, was es zu einem Konzeptalbum macht. Im Großen und Ganzen geht es dabei um Transhumanismus beziehungsweise die Erweitertung des Menschen, sowie um die durch exponentiellen Wachstum fortschreitende Technologie. Also das Übliche: Die Zukunft und der Mensch. Nanobots. Superheroes. Instant Babys und Unsterblichkeit. Alles aus unserer ganz persönlichen Sicht. Auf Englisch. Und auch hier mit Nerd-Kompatibilität. Daraus resultieren dann Lieder mit Textzeilen wie „30.000 days are not enough“, „Will robots help me when I‘m old?“ oder „Don‘t worry. Technology will save us.“

Viele Musiker und Bands haben zuletzt Online-Konzerte aus dem heimischen Wohnzimmer gestreamt. Wie denkt ihr darüber?
Um fair zu bleiben, alles muss versucht werden! Wie bei jedem Kunsterlebnis, manche können das richtig gut. Doch die Chance ist leider recht groß, dass es ein unfokussiertes, schwaches Erlebnis wird – zumindest im Vergleich zu einem Live-Event mit Schweiß und Zigaretten. Aber da wir uns alle gerade zusammenreißen sollten, ist es der Situation durchaus angemessen, um neue Kommunikationsformen für sich selbst als Musiker zu suchen. Das Interessanteste daran aber bleibt vermutlich die Inneneinrichtung der Wohnzimmer, sowie die Möglichkeit, mit allen zu chatten, während man zuhört und seine E-Mails checkt. Positiv daran ist die Suche nach neuen, anderen Formen und nicht darauf zu bestehen, unbedingt – wie immer – live vor Publikum auftreten zu müssen. Wichtiger als um jeden Preis die alten Verhältnisse zu simulieren ist, dass alle Essen und ein Dach über dem Kopf haben und dass wir diese Pandemie hinter uns lassen. Was total nervt, ist, wenn es falsche Forderungen gibt. Ein Beispiel: Als sich die Corona-Situation weiter verschlechterte und vieles untersagt war, gingen Sexworker auf die Straße, um auf ihre schlechten Bedingungen aufgrund der erzwungenen Arbeitslosigkeit aufmerksam zu machen. Dort gab es dann welche, die riefen: „we want sex“ und wir dachten: Das ist wirklich unglaublich, wie sehr wir Menschen die Regeln oder das System akzeptieren, dass wir sogar schon beim Wünschen Kompromisse eingehen und nicht das verlangen, was wirklich wichtig ist – nämlich alles, was man zum Überleben braucht. Stattdessen beharren wir lieber auf den alten Scheißbedingungen! Wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass die meisten protestierenden Prostituierten ihren Job machen, um irgendwie über die Runden zu kommen und nicht weil sie ihre Freier so geil finden.
Deshalb: Wir wollen keine Öffnung der Konzerthallen, Stadien oder Theater um den Preis der gesundheitlichen Gefährdung. Wir wollen, dass alle ein gutes, selbstbestimmtes Leben haben können, unabhängig von Pandemie, Konjunktur oder ihrer Profession. Die richtige Forderung ist daher irgendeine Form von bedingungslosem Grundeinkommen. Für alle. Überall. Mit dem BGE ließe sich nicht nur eine Pandemie deutlich einfacher in den Griff bekommen. Moment, kurz nachrechnen. Ja, tatsächlich. Wasser, Essen und Energie würden für alle Menschen der Welt ausreichen. Es ist eben nicht die Arbeitslosigkeit, die tötet. Verantwortlich dafür ist das Verhungern!

Habt ihr nach der Veröffentlichung des Albums vor, live aufzutreten?
Nein. Die produzierte Musik wird es einfach so geben und über die eigene Anlage zu genießen sein. Oder über das Smartphone, dann halt ohne Genuss. Sollte die Welt aber den Live-Auftritt von uns einfordern und sich die allgemeine Situation wesentlich ändern, können wir gerne darüber sprechen.

Gibt es ansonsten Pläne für 2021?
Maske tragen, überleben und eine Spritztour mit dem Apokalypsen-Bus. Falls dazwischen noch irgendwie Luft ist, bereiten wir den dritten Teil der Wonderland Incorporated Trilogie vor, welcher den Titel „What makes you you?“ tragen wird, produzieren die zweite Staffel der „Spaceships with opinions“, diesmal mit Emotion und Drama, kümmern uns um die vermutlich verschobene Veröffentlichung des Albums und starten eine Recherche zu sozialer Gerechtigkeit in Kombination mit Technologie. Echt jetzt.

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