Tabea Thomsen im Interview – „Marxloh ist definitiv einen Besuch wert“

Im Rahmen des Projekts „Inside Marxloh“ zeigen Schülerinnen mit Migrationsgeschichte seit diesem Jahr den Stadtteil im Duisburger Norden aus ihrer ganz persönlichen Perspektive. Gemeinsam mit den Teilnehmenden besuchen sie unter anderem die Brautmodenmeile Weseler Straße, das Schwelgernstadion und die DITIB-Merkez-Moschee. Was macht die Arbeit im Projekt mit den Mädchen? Und wie verändert sich die Sicht der Besucher:innen auf das vermeintliche Problemviertel Marxloh durch den Rundgang? theycallitkleinparis hat mit Tabea Thomsen gesprochen. Die 24-Jährige ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Münster und als solche für das Projekt verantwortlich.

Tabea, euer Projekt startete im Sommer 2024, also vor ziemlich genau einem Jahr. Was wusstest du zu dem Zeitpunkt über Marxloh?
Als gebürtige Düsseldorferin war mir der Stadtteil schon ein Begriff – allerdings nur aus öffentlichen Diskursen und den Medien. Insbesondere zur Zeit meines Abiturs, als es um den Kauf des Abiballkleids ging, war Marxloh immer wieder im Gespräch. Dort gibt es ja viele Läden, die entsprechende Kleider anbieten. Im Endeffekt hat sich aber keine von uns getraut, ihr Abiballkleid in der „No-Go-Area“ zu kaufen. Stattdessen sind wir den Massen in Richtung Breuninger und P&C gefolgt. Das erste Mal vor Ort gewesen bin ich im November 2024, um die letzten Details für den Start der Mädchen-AG abzuklären. Bis wir im Februar 2025 tatsächlich mit der Arbeit im Gelände begonnen haben, kannte ich von Marxloh allerdings lediglich die Bahnhaltestellen, die Herbert-Grillo-Gesamtschule und die Duisburger Werkkiste. Das sieht mittlerweile aber natürlich ganz anders aus.

Wie würdest du jenen Leser:innen, denen Marxloh gar nichts sagt, den Stadtteil im Duisburger Norden beschreiben?
Mit den hohen Fördertürmen, Hochöfen und Schornsteinen entspricht Marxloh zunächst mal dem klassischen Bild des Ruhrgebiets. Dieses wird allerdings durch den mittlerweile starken Einfluss von Menschen aus dem vorwiegend südosteuropäischen Ausland gebrochen. Diese Gruppe von Menschen belebt den Stadtteil. Es ist immer etwas los, es gibt immer etwas zu gucken. Insbesondere an warmen Sommertagen verströmt Marxloh geradezu eine Art Urlaubsflair. Das Viertel stellt die Stadtpolitik aber auch vor Herausforderungen, was beispielsweise Müllberge auf offener Straße oder leerstehende heruntergekommene Immobilien angeht. Einen Besuch ist der Stadtteil aber definitiv wert!

Ich selbst lebe seit vielen Jahren in Düsseldorf-Oberbilk, einem Quartier, das einen ähnlich schlechten Ruf genießt wie Marxloh. „Ghetto“, „No-Go-Area“, „Maghreb-Viertel“ sind Zuschreibungen, die im Zusammenhang mit dem Stadtteil immer wieder genannt werden. Wenn man allerdings die Menschen fragt, die hier leben, beschreiben sie Oberbilk oft ganz anders, viel positiver. Wie hast du das im Fall von Marxloh erlebt?
In meiner Arbeit in Marxloh fokussiere ich mich ausschließlich auf junge Mädchen mit Migrationsgeschichte, entsprechend ist meine Perspektive auf den Raum natürlich geprägt. Als ich die Mädels noch nicht so gut kannte, haben sie zunächst die dominanten Narrative, die ihnen durch Social Media geläufig sind, reproduziert. Sie haben die Stereotype perfekt bedient – vermutlich um nicht zu polarisieren oder sich in eine Konfrontation zu manövrieren. Mit der Zeit haben sie sich aber immer weiter geöffnet und es ist klar geworden, dass sie Marxloh doch gar nicht so schlimm finden. Natürlich bleibt es objektiv ein Stadtraum, der mit strukturellen Problemen zu kämpfen hat. Der Grund, warum sich die Mädels trotzdem wohlfühlen, ist die Community. Marxloh ist ihr Heimatstadtteil. Sie kennen sich aus und fühlen sich sicher. Jeder kennt jeden. Dennoch läuft immer mit, wie die öffentliche Meinung über Marxloh ist. Deshalb möchten sie sich nur ungern als Bewohnerinnen Marxlohs zu erkennen geben und betonen immer, dass sie den Stadtteil verlassen möchten.

Die Mädchen, die im Rahmen von „Inside Marxloh“ den Stadtteil, in dem sie leben, aus ihrer Perspektive zeigen, sind Schülerinnen der Herbert-Grillo-Gesamtschule in Marxloh. Sie haben allesamt migrantische Wurzeln. Warum wolltet ihr gerade die Sicht dieser Gruppe auf ihr Viertel zeigen? Es hätten ja auch ältere Menschen mit Migrationsgeschichte sein können. Oder eine gemischtgeschlechtliche Gruppe.
In wissenschaftlichen Studien bleiben insbesondere junge Mädchen mit Migrationsgeschichte oftmals unberücksichtigt, obwohl es langfristig betrachtet genau diese jungen Generationen sind, die unsere Welt gestalten werden. Aus der Perspektive der feministischen Geographie war es mir ein Anliegen, den Mädchen im männlich dominierten Stadtraum Marxloh eine Stimme zu geben. Ich erhoffe mir davon auch eine stärkere Teilhabe der Mädchen in der Gesamtgesellschaft in Zukunft. Es ist äußerst wichtig, die mehrfache Diskriminierung dieser Zielgruppe öffentlich sichtbar zu machen. In dem stigmatisierten und von großer Armut betroffenen Raum Marxloh leben Mädchen mit Migrationsgeschichte an der Schnittstelle von Klasse, Migration und Gender. Für diese marginalisierte Positionierung muss gesellschaftliche Aufmerksamkeit geschaffen werden.

Migrantische Gruppen zu erreichen, wenn man selbst nicht Teil der Community ist, ist oft nicht einfach. Was war dabei besonders herausfordernd? Was waren eventuelle Vorbehalte der Marxloher Mädchen gegenüber Menschen, die nicht aus dem Viertel kommen? Und: Wie konntest du letztendlich ihr Vertrauen gewinnen?
Vor dem ersten Treffen waren beide Parteien, sowohl die Mädels als auch ich selbst, total aufgeregt. Unbekanntes führt ja bekanntlich zu Unsicherheit. Gerade deshalb war mir ein niedrigschwelliger Einstieg total wichtig. In den ersten Wochen stand die Beziehungsarbeit im Vordergrund. Wir haben zusammen Perlenschmuck gebastelt, Steckbriefe ausgefüllt oder Fotos gemacht. Das war die Basis für den Einstieg in die thematische Arbeit, die knapp zwei Monate später begann. Mittlerweile kann ich selbstbewusst sagen, dass ich es geschafft habe, das Vertrauen der Mädchen zu gewinnen. Von Vorteil waren dabei mein Alter und mein Aussehen, so haben die Mädchen es mir gesagt. Durch die geringe Altersdifferenz – sie sind 15, 16, ich bin auch erst 24 – sei ich für sie wie eine große Schwester, weil uns teilweise noch die gleichen Themen beschäftigen. Wir können uns über Filme, Serien oder Klamotten austauschen. Was mein Aussehen angeht, empfinden sie mich als nicht klassisch deutsch, entsprechend schnell haben sie mich als eine von ihnen akzeptiert. Diese Akzeptanz weiß ich sehr zu schätzen, sie ist für mich absolut nicht selbstverständlich. Die Beziehungsarbeit bleibt für mich ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Bestandteil der AG. Es ist beispielsweise zum Ritual geworden, dass wir vor jeder Stadtteilführung gemeinsam zu Mittag essen. Es ist sehr schön, zu merken, dass die Mädchen in mir eine wichtige Ansprechperson sehen. Dieses Vertrauen ist Ausgangspunkt jeglicher thematischer und empirischer Arbeit im Rahmen des Projekts.

Wie lief die Entwicklung des Rundgangs ab? Wie lange hat der Prozess gedauert?
Ungefähr ein halbes Jahr. Mitte Dezember 2024 habe ich die ersten Interviews mit den Mädchen geführt, um einen Überblick über ihre Raumwahrnehmung zu bekommen und schon einmal mögliche Stationen unserer Stadtteilführung zu identifizieren. Die Schülerinnen sind ja Expertinnen für das Quartier und verfügen über vielfältiges Wissen, ein spezifisches Netzwerk interessanter Kontakte und über Zugang zu Orten, die für den Stadtteil typisch sind. Anfang Januar haben wir eine erste Stadtteilführung unternommen, damit die Mädels mir einmal ihren Heimatort zeigen – ganz unvoreingenommen ohne übergeordnete Fragestellung oder Zielvorstellung. Diese Stadtteilführung stellte den Einstieg in die thematische Arbeit dar. Wir haben angefangen, eine Route zu erarbeiten und die einzelnen Stationen durch Recherche, Fotos, Interviews mit Leben zu füllen. Ende Mai stand unsere Stadtteilführung final. Seitdem haben die Schülerinnen fünf Gruppen durch Marxloh geführt, für September sind drei weitere Rundgänge gebucht. Die Mädchen lernen von Woche zu Woche dazu. Mittlerweile sind sie schon sehr professionell.

Welche Orte zeigen die Mädchen den Besucher:innen im Rahmen ihres Rundgangs?
Insgesamt hat der Stadtteilrundgang neun Stationen, ich greife mal drei exemplarisch heraus: Die Mädchen zeigen unter anderem die Weseler Straße mit ihren zahlreichen Brautmodengeschäften. Auf der Straße findet man einfach alles, was rund um die Hochzeit benötigt wird, es gibt Juweliere, Fotostudios oder Konditoreien. Zahlreiche Menschen kommen nach Marxloh, um auf der Weseler Straße einzukaufen. Sie reisen aus benachbarten Städten, zum Teil sogar aus dem Ausland an. Eine weitere Station des Rundgangs ist das Schwelgernstation, ein Fußballstadion mit Leichtathletikanlage, das vor über 100 Jahren gebaut wurde. Bis 1999 gehörte zu der Anlage auch ein Schwimmbad, das Schwelgernbad. Und nicht zuletzt besuchen wir mit unseren Teilnehmenden die DITIB-Merkez-Moschee. Mit deren Bau wurde 2004 begonnen, fertiggestellt wurde sie aber erst vier Jahre später, 2008. Gegen den Bau der Moschee gab es ausgeprägte Widerstände. Die Moschee ist eine der größten in Deutschland und damit auch ein Tourist:innen-Magnet Marxlohs.

Unterwegs in Marxloh, Foto: Tabea Thomsen

Sind es deiner Einschätzung nach andere Orte als sie Jungs mit Migrationsgeschichte im gleichen Alter gezeigt hätten?
Das glaube ich schon, weil die Mädchen ganz bewusst und immer wieder ästhetische, feminine Entwürfe Marxlohs gezeichnet haben, um dem dreckigen, gefährlichen, maskulin dominierten Marxloh etwas entgegenzusetzen. Dabei ging es viel um Blumen, Sonne, Kleider oder Glitzer.

Wer waren eure Teilnehmenden bisher? Wer interessiert sich für Marxloh?
Wir hatten Studierende der Universität Münster und Schulklassen zu Gast, die den Raum Duisburg im Rahmen des Fachs Geographie untersucht haben. Dabei ging es um Themen wie Strukturwandel, mediale Stigmatisierung oder Raumkonzepte. Wir haben die Stadtteilführung aber auch vier Mal mit zusammengewürfelten Gruppen aus der interessierten Öffentlichkeit durchgeführt. Die Teilnehmenden zeichneten dabei ein sehr heterogenes Bild, sei es in Bezug auf den Herkunftsort, das Alter oder den eigenen Berufsstand. Die Motivation war aber bei allen ähnlich: Sie wollten einmal einen Blick hinter die Kulissen werfen und überprüfen, ob an dem dominanten Narrativ über Marxloh etwas Wahres dran ist.

Wie war das Feedback auf euren Rundgang?
Das Feedback ist zu unserer großen Freude sehr gut ausgefallen. Alle Teilnehmenden waren äußerst positiv überrascht. Zum einen vom Stadtteil selber, weil er eben nicht den Raumzuschreibungen entspricht – zumindest nicht nur, er ist so viel mehr als das. Zum anderen von der Performance der Mädchen. Ihnen wurde sehr viel Wertschätzung und Anerkennung entgegengebracht, dafür, dass sie sich in diesem Alter und mit eingeschränkten Deutschkenntnissen trauen, vor einer Gruppe zu sprechen und fremden Menschen einen Einblick in ihr Leben zu gewähren.

Sprichst du als Projektverantwortliche auch mit ausgewählten Teilnehmenden der Rundgänge? Zum Beispiel darüber, wie sich ihr Blick auf den Stadtteil Marxloh durch das, was sie Mädchen ihnen zeigen und erzählen, verändert?
Auf jeden Fall! Für uns steht der persönliche Kontakt sowieso im Vordergrund. Und während einer zweistündigen Tour habe ich dafür zum Glück auch ausreichend Zeit. Zudem erhebe ich die Assoziation der Teilnehmenden mittels Mentimeter am Anfang und am Ende einer Stadtteilführung. Die Ergebnisse sprechen Bände. Die Eindrücke vor der Stadtteilführung reproduzieren die dominanten Stereotype aus dem medialen Diskurs. Es wird von Problemviertel, Armut und negativem Image berichtet. Außerdem werden negativ konnotierte Fragen an den Raum gestellt, zum Beispiel „Will man hier Lehrer sein?“ oder „Wie geht’s einem hier?“. Nach der Durchführung unserer Stadtteilführung sieht es ganz anders aus. Die Teilnehmenden berichten von einem veränderten Blick, netten Menschen und der Offenheit aller. Die Mädchen schaffen es also tatsächlich, die Sichtweise Außenstehender auf ihren Heimatstadtteil zu verändern.

Wie war das öffentliche und mediale Interesse an dem Projekt bisher?
Das Interesse ist von beiden Seiten sehr groß. Momentan bekommen wir mehr Anfragen als wir bedienen können. Bislang haben uns zweimal Pressevertreter:innen begleitet, für September hat sich der nächste angekündigt.

Gibt es in Stadtteilen deutscher oder europäischer Städte, die eine ähnliche Bewohner:innen-Struktur aufweisen wie Marxloh, vergleichbare Projekte? Seid ihr untereinander im Austausch?
Eine deutschlandweite Verbreitung gehört zu den langfristigen Zielen unseres Projekts. In der Nürnberger Südstadt wurde bereits ein ähnliches Projekt durchgeführt, mit der Erkrather Sandheide stehen wir in engem Austausch, um eine Umsetzung zu realisieren. Ansonsten sind wir für Kooperationen jeglicher Art offen. Ich habe unser Projektformat aber auch auf internationalen Tagungen, zum Beispiel in Graz oder San Francisco, vorgestellt.

Das Projekt „Inside Marxloh“ hat, so kann man es auf eurer Webseite nachlesen, zwei Ziele: Zum einen will es Potenziale von Marxloh aufzeigen und der stigmatisierenden Brandmarkung des Stadtteils entgegenwirken. Zum anderen geht es darum, die Selbstwirksamkeit und die gesellschaftliche Teilhabe von Mädchen und Frauen mit Migrationsgeschichte zu stärken. Auch wenn das Projekt ja nach den Sommerferien weiterläuft, würde ich dich trotzdem um ein Zwischenfazit bitten: Habt ihr diese beiden Ziele, Stand jetzt, erreicht?
Mit Blick auf die Selbstwirksamkeit definitiv! Die Mädchen wachsen mit jeder neuen Führung mehr über sich hinaus. Das berichten sie selbst in den Interviews, die ich regelmäßig mit ihnen führe. Aber auch die Teilnehmenden der Stadtteilführungen nehmen diesen Prozess innerhalb der zwei Stunden, die sie mit den Mädchen verbringen, wahr. Was die Stigmatisierung Marxlohs angeht: Der entgegenzuwirken, ist ein langfristiger Prozess, der kontinuierliche Bemühungen erfordert. Für ein Fazit ist es da noch zu früh. Ich habe aber das Gefühl, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. Um tatsächlich etwas verändern zu können, brauchen wir aber die Unterstützung anderer Instanzen, zum Beispiel der Stadtpolitik.

Tabea Thomsen hat in Köln und Münster Geographie und Biologie auf Lehramt studiert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster. Ein Projekt, das sie dort betreut, ist „InMarx – Inside Marxloh: Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartungen von Mädchen und Frauen mit Migrationsgeschichte im Kontext eigener Stadtteilführungen“. Zu diesem Projekt entsteht auch Thomsens Dissertation.

Die nächsten Stadtteilführungen von „Inside Marxloh“ finden am 01. und 23. September 2025 jeweils um 14 Uhr statt. Anmelden kann man sich hier.

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