Zweiter Fastentag, seit über 12 Stunden nichts gegessen
Gestern hat mich, ihr erinnert euch vielleicht, mein Ramadan-Coach Erdin Kadunic gefragt, ob ich einen Ramadan-Kalender besitze. Er meinte in dem Fall nicht jenen, der mit Schokolade gefüllt ist (den habe ich ja), sondern den, in dem die relevanten Uhrzeiten für alle 30 Fastentage aufgelistet sind. „Nein, habe ich nicht“, schrieb ich ihm also zurück. „Ich google das einfach.“ Keine fünf Minuten später hatte er mir schon einen entsprechenden Kalender per WhatsApp geschickt. Der Kalender war in bosnischer Sprache, aber Uhrzeiten sind ja nun einmal international verständlich. Ich stutzte einen Moment, als ich jene fett markierte Uhrzeit sah, die den morgendlichen Beginn des Fastens markierte. Für den gestrigen Tag, den 1. März, war dort 5:26 Uhr angegeben. Laut Google – und danach hatte ich mich mangels Alternativen gerichtet – war der Sonnenaufgang aber gestern um 7:17 Uhr.
„Habe ich was falsch gemacht?“, fragte ich Kadunic verunsichert. Der meldete sich umgehend zurück – und lieferte die Erklärung: Man faste nicht vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, sondern von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang liegen unglücklicherweise fast zwei Stunden. Die Herausforderung, der ich mich gegenüber sah, sie wuchs also noch mal. Puh, dachte ich, und fühlte mich als das, was ich in Sachen Ramadan ja nun einmal bin: eine Novizin. Kadunic sah meinen Faux pas vergleichsweise entspannt. „Das ist gar nicht schlimm“, schrieb er. Es passiere auch trainierten Muslimen am ersten Tag schon mal, dass sie die Uhrzeiten verpeilen. „Nach islamischem Recht gilt das für dich trotzdem als ganz normaler Fastentag.“
Das war die gute Nachricht: Ich musste den Tag nicht nachfasten. Die schlechte: Ich musste von nun an noch früher aufstehen. Für den heutigen Tag bedeutete das: bis 5:24 Uhr musste das Frühstück eingenommen sein. Ich traf also Vorbereitungen und mixte gestern Abend bereits einen Bananenshake mit Kuhmilch, von dem ich hoffte, dass er mich zum einen in Ruhe weiterschlafen ließ, zum anderen aber doch eine Weile vorhalten würde. Schließlich hatte ich mich heute mit einem Freund zum Wandern verabredet. „Könnten wir vielleicht einigermaßen früh losgehen?“, hatte ich den Freund gefragt. Derlei Wünsche war er von mir nicht gewohnt. Gemeinhin starten wir erst gegen Mittag zu unseren Touren. Aber mein neues Ramadan-Ich wusste aus der Erfahrung bereits, dass man im Laufe des Tages matter und müder wurde und dass das nicht der Idealzustand fürs Wandern war.
Als wir um 10 Uhr aufbrachen, knurrte mein Magen bereits. „Schaffst du die Strecke denn?“, fragte der Freund und ich entgegnete, dass ich es nicht wirklich einschätzen könne. Ich fühlte mich, obwohl ich erst anderthalb Stunden auf den Beinen war, schon wieder müde. Ein bisschen so, als hätte ich gerade eine schwere Erkältung überwunden, die mir noch in den Gliedern saß. „Versuch einfach, dich auf etwas anderes zu konzentrieren“, schlug der Freund vor – aber das fiel mir schwer. Ich erzählte ihm alles. Von den Pierogi am gestrigen Abend, die ich als Festmahl empfunden hatte. Von der Süße der Dattel, mit der man das Fasten traditionell bricht. Von dem ersten Glas Wasser. Von dem unruhigen Schlaf der vergangenen Nacht und den wirren Träumen, in denen ich in großen, unübersichtlichen Städten umherirrte.
Wir gingen an der Duisburger Seenplatte entlang, eine Strecke, die wir häufiger bewandern. Normalerweise gehört zu unseren Wanderungen traditionell eine Einkehr. Kaffee und Kuchen. Waffeln. Oder Pommes. Heute ließen wir die Konditorei Dobbelstein, nicht ohne ihre fantastische Nusstorte in den höchsten Tönen zu loben, ebenso links liegen wie den kleinen Kiosk am Wolfssee-Freibad, an dem wir sonst so gerne Kaffee tranken, frisch gebackene Waffeln verzehrten und dabei in Liegestühlen saßen und auf den See schauten. Auch die Imbissbude mit den großartigen Pommes und dem großartigen Namen „Bolders Brutzelei“ ignorierten wir. Ich wurde langsam übellaunig. Ohne Einkehr mache das Wandern nur halb so viel Spaß, ließ ich den Freund wissen und sagte: „Hol du dir doch wenigstens was.“ Das könne er nicht bringen, entgegnete er, aus Respekt zu mir und meinem Fasten-Experiment. Wenig später kaufte er an einem Kiosk zwei Schokoriegel. „Willst du einen?“ Was für eine Frage! Natürlich wollte ich! Ich hätte mein letztes Hemd, meine liebsten Schuhe, selbst den roten Mantel gegen diesen Schokoriegel eingetauscht. „Muss ja niemand erfahren“, sagte der kleine Teufel auf meiner Schulter. Und hier, in der Nachbarstadt, war das Risiko, dass jemand vorbeikam, der von meinem Experiment wusste, quasi bei Null. „What happens in Duisburg, stays in Duisburg“, flüsterte der Teufel, während ich den Schokoriegel dankend ablehnte. „Du hast dir das selbst ausgesucht“, sagte der Freund. Ja, verdammt noch mal, das hatte ich.
Diese Reihe wird im besten Fall bis zum Ende des Ramadans fortgeführt.