Der Melatenfriedhof ist der größte Friedhof Kölns. Er zählt 55.000 Gräber, darunter die von Prominenten wie Willy Millowitsch, Alfred Biolek, Erika Berger oder Hans-Jürgen Wischnewski. theycallitkleinparis hat Düsseldorf – ausnahmsweise – verlassen, um einen faszinierenden Ort zu besuchen, an dem sich Tod und Leben die Hand reichen.
Die Dame mit dem bordeauxroten Hut schiebt wie in Zeitlupe ihr Fahrrad über den Weg. Ab und zu klappt sie den Ständer aus, stellt das Rad kurz ab und geht ein paar Meter auf ein Grab zu, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Mal beugt sie sich zu einer moosbewachsenen Steintafel herunter. Mal betrachtet sie das in den Grabstein eingelassene Schwarz-Weiß-Foto eines Verstorbenen. Mal den textilen Blumenschmuck. Es ist ein Sonntagnachmittag im Herbst. Das milde Sonnenlicht fällt im perfekten 45-Grad-Winkel auf Wege, Eicheln, Bäume, Gruften, Grabsteine und das Wahrzeichen des Melatenfriedhofs: den Sensenmann. Als die behütete Dame zu ihrem Rad zurückkommt, spreche ich sie an. Ob es irgendwo einen Plan gebe, dem man entnehmen könne, wo die berühmten Verstorbenen liegen, frage ich. „Nee, wüsste ich jetzt nicht.“ Beim Pförtner vielleicht, hake ich nach. „Heute ist eh keiner da, ist ja Sonntag“ lautet die Antwort. Dass keiner da ist, stimmt so natürlich nicht. Der Melatenfriedhof ist sogar ziemlich gut besucht. Weniger Angehörige mit Gießkannen, Grablichtern und Rechen allerdings, stattdessen schlendern Unbeteiligte aller erdenklichen Art über den Totenacker. Junge Mütter mit Kindern auf Rollern. Ein paar Studenten, die sich auf englisch unterhalten. Händchen haltende Paare. Ein telefonierender Anzugträger. Der Melatenfriedhof wird von Einheimischen und Touristen eher wie eine Art innenstädtische Parkanlage interpretiert. Wem der Aachener Weiher zu voll und der Weg in die Wahner Heide zu weit ist, der spaziert über das 435.000 Quadratmeter große Gelände im Kölner Stadtteil Lindenthal und kann dabei mit etwas Glück sogar das lebensgroße Abbild des Geißbocks Hennes entdecken, seines Zeichens Maskottchen des Fußballclubs 1. FC Köln.
Im Jahr 2010 feierte der Friedhof, der nach dem Vorbild des Pariser Père Lachaise entstand, seinen 200. Geburtstag. Der Name „Melaten“ basiert auf dem französischen Wort „malade“ (krank). Ab dem 12. Jahrhundert befand sich auf dem Gelände ein Heim für Leprakranke. Die Erkrankten galten als Aussätzige, die das Areal nur an bestimmten Feiertagen zum Betteln verlassen durften. An diesen Tagen wurden die Bürger vom sogenannten Schellenknecht, der den Kranken voranging, vor der drohenden Ansteckung gewarnt. Am Eingang zur alten Friedhofskapelle ist heute die Skulptur eines Schellenknechts zu sehen: als Erinnerung an das Schicksal der Aussätzigen. Schon lange vor der Einweihung des Friedhofs war das Gut Melaten übrigen ein Ort des Todes. Im Mittelalter befand sich an gleicher Stelle die öffentliche Hinrichtungsstätte der Stadt. 1529 wurden auf dem Gutsgelände zwei Protestanten wegen ihres Glaubens verbrannt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden über 30 Frauen und Mädchen als vermeintliche Hexen getötet. Erst 1797 wurde mit dem Kirchenräuber Peter Eick der letzte Mensch auf Melaten hingerichtet.
„Suchen Sie denn jemand Konkreten?“, fragt die Dame mit dem bordeauxroten Hut und bringt mich zurück in die Gegenwart. Ihr Lippenstift, das bemerke ich jetzt erst, ist genau auf den Farbton der Kopfbedeckung abgestimmt. Mir fällt zuerst Dirk Bach ein, der Komiker, der 2012 – auch schon wieder zwölf Jahre her – so plötzlich verstorben ist. Das wisse sie nicht, wo der liegt, leider. „Ich bin immer schon froh, wenn ich die Gräber meiner verstorbenen Freunde finde.“ Natürlich sei sie bei dem ein oder anderen schon mal vorbeigekommen, bei Biolek, Millowitsch oder Westerwelle. „Trude Herr liegt ja auf dem Nordfriedhof.“ Herrs Evergreen „Niemals geht man so ganz“ dürfte auf dem Melaten dennoch ebenso häufig erklingen wie auf anderen Friedhöfen. Zusammen mit Kompositionen von Den Toten Hosen („An Tagen wie diesen“), Unheilig („Gestorben, um zu leben“) und Andreas Gabalier („Einmal sehen wir uns wieder“) gehört er bis heute zu den meistgespielten Musikstücken auf Beerdigungen. Ich muss an die letzte Bestattung denken, bei der ich dabei war. Der Vater einer Freundin. Über 80, erfülltes Leben. Eine sehr persönliche Zeremonie. Musik von Reinhard Mey, Kate Bush und Hannes Wader. Neben der Urne ein Schwarz-Weiß-Foto des Verstorbenen auf seinem Aufsitzrasenmäher. Er liebte seinen Garten. Drei Tage vor seinem Tod hat er das Gras ein letztes Mal gestutzt. Dann konnte er beruhigt seine letzte Reise antreten.
Drei junge Frauen reißen mich aus meinen Gedanken. Entzückt verfolgen sie den Weg eines Eichhörnchens, das über die Gruft der Familie Over (ein Name wie gemacht für den Friedhof) turnt. „Ich habe immer eine Nuss dabei“, sagt eine von ihnen. Als hätte das Tier verstanden, nähert es sich ihr bis auf weniger als einen Meter. Als die Haselnuss zu Boden fällt, ist der kleine Wuschelschwanz sofort zur Stelle, um die Fressalien abzutransportieren. Mitsamt der Beute verschwindet er auf einem nahen Baum. Auch jenseits von Eichhörnchen ist der Melatenfriedhof ein Rückzugsort für Tiere unterschiedlichster Art. Über vierzig Vogelarten sind hier zuhause, darunter Finken, Blaumeisen, Buntspechte, Sperber, Habichte und sogar Mäusebussarde. Dazu kommen Fledermäuse, unzähligen Insektenarten, Katzen, Kaninchen und auch Füchse. Sie alle leben hier in friedlicher Koexistenz mit den Lebenden und den Toten. Eine besondere Verbindung gingen vor vielen Jahren ein Fuchs und ein engagierter Tierschützer ein. Letzterer fand Meister Reineke mit verletztem Unterkiefer auf. Er fütterte das Tier eine Zeitlang, bis es wieder selbständig auf Jagd gehen konnte. Doch der Fuchs vergaß den menschlichen Helfer nicht. Über viele Jahre begleitete er ihn auf seinen abendlichen Spaziergängen über den Melatenfriedhof.
„Hier vorne ist ja die Millionenallee, da sind nur Reiche begraben“, setzt die Frau mit dem bordeauxroten Hut erneut an. „Ich sach jetzt ma, so Leute wie Sie und ich, wir könnten uns das nicht leisten.“ Dass Dirk Bach dort liege, glaube sie auch nicht. Aber Willi Herren, an dessen Grab sei sie gerade noch vorbeigekommen. Einfach vorne links in die Millionenallee abbiegen. „Sehen Sie dann schon. Da ist immer Rambazamba.“ Herren starb im April 2021 im Alter von 45 Jahren. Zwei Tage vor seinem Tod hatte der Schauspieler, der als Olli Klatt in der „Lindenstraße“ bekannt wurde, noch einen Foodtruck für Reibekuchen in Frechen eröffnet. Die Beerdigung musste wegen der Corona-Pandemie im engsten Kreis stattfinden, nur 30 Gäste durften dabei sein. „Tschüss, Ciao und auf Willisehen“ stand auf dem schwarzen Sarg, der mit einer Kutsche über den Friedhof gefahren wurde. „Woran genau der gestorben ist, weiß ich gar nicht mehr“, überlegt die Behütete jetzt laut. Drogen? Nein. Ein Verbrechen? Nein, war es auch nicht. Ein junger Mann sei Herren ja nicht mehr gewesen. Richtig alt aber auch nicht. „20 Jahre Lindenstraße, das schlaucht natürlich schon“, sagt sie. „Schönen Nachmittag noch.“ Als ich wenig später Richtung Ausgang unterwegs bin, kommt mir ein lang vergessener Gassenhauer von Jupp Schmitz in den Sinn, der nirgendwo besser passt als auf dem Totenacker: „Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel.“ Schmitz verstarb 1991. Beerdigt ist er – auf dem Melatenfriedhof.
Melatenfriedhof, Aachener Str. 204, Köln
Öffnungszeiten April bis September: 7-20 Uhr, Oktober: 8-19 Uhr, November bis März 8-17 Uhr
Jeden Sonntag, 12 Uhr: öffentliche Führung, Treffpunkt: Eingang Piusstraße
Gräber Prominenter:
Dirk Bach, Lit C an Flur J (14)
Guido Westerwelle, Millionenallee
Hans-Jürgen Wischnewski, Flur 3 in N
Heinz G. Konsalik, Flur 69a
Willi Millowitsch, Flur 72a
Willi Herren, Flur 72
Alfred Biolek, Flur 61