Dirk Sauerborn im Interview – „Schießen musste ich nie“

Am 3. Juni war sein letzter Arbeitstag. Nach 45 Jahren als Polizist ist Dirk Sauerborn in den Ruhestand gegangen. Im Laufe der Jahre hat der heute 63-Jährige unterschiedliche Aufgaben im Polizeidienst übernommen. Zuletzt war der Polizeihauptkommissar viele Jahre Kontaktbeamter und Ansprechpartner für interkulturelle Angelegenheiten. Kurz vor seiner offiziellen Verabschiedung im Polizeipräsidium hat theycallitkleinparis mit Sauerborn gesprochen.

Der ehemalige Chef des Auxilium auf der Mindener Straße hat dich mal als Harmoniebeauftragten bezeichnet. Wie wichtig ist dir Harmonie?
Harmonie ist wichtig. Aber vor der Harmonie kommt manchmal der Streit, kontrovers darf er sein, konstruktiv sollte er sein. Das Ergebnis kann auch eine Zweinigung sein. Die Einigung darüber, dass man höchst unterschiedlicher Meinung ist.

Dein letzter Tag im Polizeidienst war der 3. Juni. Wie hast du ihn erlebt?
Es war der Abschluss der für mich letzten Begegnungswoche, für mich die 18. Fortbildungsveranstaltung dieser Art. Nachmittags fand ein Rundgang durch das Ellerstraßenquartier statt. Es gab bei beiden Veranstaltungen super Rückmeldungen, über die ich mich sehr gefreut habe. Trotzdem – ein ambivalentes Gefühl.

Du hast 1977 deine Ausbildung bei der Polizei begonnen. Warum hast du dich dafür entschieden, Polizist zu werden?
Meine getrennt lebenden Eltern haben das mehr oder weniger mit mir entschieden. Wir brauchten das Geld. Eigentlich wollte ich Lehrer werden. Ohne Abitur ging das aber nicht. Mit knapp 17 habe ich die Realschule verlassen – und bin in den Polizeidienst gegangen. Da ich ein ganz guter Polizeischüler war, haben mich die damaligen Fachlehrer immer wieder gebeten, schwächeren Kollegen Nachhilfe zu geben. Das habe ich gerne gemacht – und durch ihre Fragen viel gelernt. Da ich seit 1987 eine ganze Menge Fortbildungen bei der Polizei gemacht habe, an der Fachhochschule, bei der Landeskriminalschule, für die Stadt Düsseldorf und an vielen Stellen mehr, und dann noch zehn Jahre bei der Fortbildungsstelle des Polizeipräsidiums Düsseldorf eingesetzt war, ging der Wunsch, Lehrer zu sein, dann doch irgendwie in Erfüllung.

Was sollte ein:e gute:r Polizist:in deiner Meinung nach mitbringen?
Neugier auf Menschen. Konfliktresilienz, also die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten. Und natürlich Konfliktlösungskompetenz. Polizeiliche Situationen haben in aller Regel etwas mit Konflikten zu tun. Früher sagte man, man muss ein dickes Fell haben. Das wächst einem mit der Zeit. Und man kann es trainieren, in der Aus- und Weiterbildung. Wir Polizist:innen halten eher selten Verkehrsteilnehmer:innen an, die brav 30 oder 50 in der Stadt gefahren sind, um sie zu loben. In einer sich stetig wandelnden Welt braucht es zudem Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit, kulturell mehrdeutige Situationen zu ertragen.

Du warst seit 2001 Kontaktbeamter und Ansprechpartner für interkulturelle Angelegenheiten, zunächst in Nebenbeifunktion, ab 2012 dann hauptamtlich. Wie muss man sich deine Aufgaben in dem Job vorstellen?
Es ging darum, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Türen zu öffnen und einzutreten. Zu Beraten. Hinweise entgegenzunehmen. Berichte und Anzeigen zu schreiben. Zu Reden. Tee zu trinken. Zu informieren, zu unterrichten, Vorträge zu halten. Zu telefonieren. Manchmal einfach nur da zu sein, bei Veranstaltungen, Präsenz zu zeigen. Beim Small Talk wesentliche Informationen zu empfangen und auch zu senden. Zu netzwerken. Die Stadtteilrundgänge waren für mich zum Beispiel klassische Netzwerkarbeit: Leute, Vereine, Communitys ansprechen, sie besuchen, in Kontakt kommen und dann bleiben.

Sauerborn am türkischen Imbiss auf dem Oberbilker Markt, Foto: Markus Luigs

In deiner Funktion warst du für die jüdische Gemeinde ebenso Ansprechpartner wie für Orthodoxe oder Muslime. Man konnte allerdings den Eindruck gewinnen, dass dir letztere besonders am Herzen lagen. Stimmt das?
Am Herzen lagen – und liegen! – mir alle Menschen und Communitys, zu denen ich Kontakte aufgebaut habe. Offiziell ist meine Jobbezeichnung „Kontaktbeamter Muslimische Institutionen“. Die Lesart in Düsseldorf lag aber immer auf der Zuwendung zu allen migrantisch geprägten Personen und Gruppen. Dass ich häufiger bei Muslim:innen als bei Mitgliedern der jüdischen Gemeinde angetroffen wurde, liegt in erster Linie daran, dass wir in Düsseldorf eine jüdische Gemeinde mit einer Synagoge haben, aber 33 muslimische Gemeinden mit 33 Moscheen und Gebetsräumen. Ich habe aber auch gute Kontakte zu den orthodoxen Gemeinden in Düsseldorf, zu den Aleviten, Bahai und vielen anderen religiösen Gruppen, aber auch zu den nichtreligiösen Vereinen und Verbänden. Da ist in den Jahren einiges zusammengekommen.

Welche Aufgaben hast du, bevor du Kontaktbeamter wurdest, im Laufe der Jahre als Polizist übernommen?
Eine ganze normale Karriere: Nach der Ausbildung in Selm-Bork – hier fielen im Oktober 1977 meine langen Haare, damals gab es noch den Haarerlass, der genau beschrieb, welches Haar an welcher Stelle wie lang sein durfte – habe ich in Düsseldorf Objekte und Personen geschützt. Danach Streifendienst auf der Altstadtwache, Aufstieg zum gehobenen Dienst, dort konnte ich meine Fachhochschulreife nachmachen, Verwendung als Gruppenführer beim Verkehrsdienst, Ausbildung zum Gefahrgutspezialisten. In der Funktion bin ich auch Krad gefahren, habe Staatsbesuche als Begleitkommandoführer geschützt und war Luftaufklärer bei großen Demos. Als Gorbi 1989 hier war, war ich Verbindungsbeamter zum Protokoll und durfte den unvergessenen Besuch des damaligen russischen Staatspräsidenten hautnah erleben. Glasnost ist für mich in Garath angekommen… Danach war ich ein Jahr im Verkehrsreferat des Innenministers, dann wieder im Polizeipräsidium, diesmal bei der Führungsstelle einer Inspektion. Dort habe ich Kriminalitätsangelegenheiten betreut. Es folgten zehn Jahre auf der Fortbildungsstelle als Trainer und Leiter der örtlichen Fortbildung. Danach hat mich Michael Dybowski, der damalige Polizeipräsident, zum Leitungsstab geholt, um die Öffentlichkeitsarbeit zu betreuen. In diese Zeit fiel auch die WM 2006 mit bleibenden Erinnerungen. Seit 2012 bin ich KMI (Kontaktbeamter Muslimische Institutionen, Die Red.), hauptamtlich, und Ansprechpartner für interkulturelle Angelegenheiten.

Welche Aufgaben haben dir besonders gefallen?
Alle.

Welche mochtest du eher weniger?
Keine. Da habe ich wohl Glück gehabt. Eine Freundin sagte mal, ich würde aus allen Verwendungen etwas machen. Vielleicht hatte sie ja Recht.

Die gefährlichste Situation, in die du als Polizist geraten bist?
Als ein Kollege entwaffnet wurde. Ein zu Vernehmender saß im Schreibraum und entriss dem Kollegen die Waffe aus dem Zivilholster. Das wäre heute so nicht mehr möglich, da gibt es mittlerweile etliche Sicherungen. Er lud die Waffe noch mal durch und bedrohte uns – mit nun gespannten Hahn. Nach einer gefühlten Ewigkeit und konsequenter Ansprache, wir haben uns in Deckung bringen können, konnten wir ihn zu Boden sprechen. Bei dem zu Vernehmenden ist eine Sicherung durchgebrannt. Und mein Kollege war eine Sekunde unaufmerksam. Diese beiden Komponenten hätten für uns beide in die Katastrophe führen können. Ansonsten war ich nahezu täglich in Lebensgefahr, weil ich viele dienstliche Termine mit dem Rad wahrgenommen habe. Im Straßenverkehr habe ich viel Glück gehabt, zumindest dienstlich. Die Unfälle mit dem Rad, die ich hatte, waren alle privat.

Wie häufig musstest du von deiner Waffe Gebrauch machen?
Ich musste nie schießen. Wie bei vielen anderen Kolleg:innen ist auch bei mir das Konzept der Deeskalation bei Einsätzen aufgegangen. Wir machen in NRW keine Schießausbildung, sondern Nicht-Schieß-Ausbildung. Klingt paradox. Aber neben der Handhabungs- und Treffsicherheit trainieren wir in kritischen Situation eben nicht zu schießen, sondern die Schusswaffe wirklich als allerletzte Instanz zu sehen. Als Trainer habe ich natürlich viel geschossen – aber nur auf dem Schießstand.

Ergreifen heute andere Leute den Beruf des/der Polizist:in als früher?
Früher waren es eher Realschüler:innen, so wie ich, heute sind es überwiegend Abiturient:innen. Sind die anders? Vielfältiger, es gibt mehr Migrant:innen bei der Polizei. Aber wirklich anders? Ich glaube nicht. Es lockt ein vielfältiger, anspruchsvoller, spannender Beruf, der viel Absicherung bietet. Beamt:in auf Lebenszeit, für viele ein Traum. Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Lage mit einer Arbeitslosigkeit auf relativ hohem Niveau lese ich mit großer Demut meine monatlichen Gehaltsabrechnungen.

Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Meldungen über rechtsextreme Vorfälle in deutschen Polizeibehörden. Hast du diesbezüglich Erfahrungen gemacht?
Bei „blöden“ Sprüchen, ich meine jetzt nicht die anzeigepflichtigen rechtsextremen, habe ich interveniert. Klar gesagt, das gehört nicht hier her, das gehört nirgendwohin. Nach dem Kommissar 88, so nannten Jugendliche im Düsseldorfer Süden einen uniformierten Polizisten, der sie angeblich immer wieder drangsalierte, habe ich gefahndet, konnte ihn aber nie identifizieren. Der blieb ein Phantom, das war er vielleicht auch. Mit einem Kollegen, der sehr einseitig ermittelt hatte, nur belastende und keine entlastenden, wie es die StPO vorschreibt, Momente für den verdächtigen Migranten suchte, habe ich umfassend erörtert, Dinge klar gestellt und Perspektiven aufgezeigt. Es kam immer wieder vor, dass Betroffene, die sich von der Polizei diskriminiert und rassistisch behandelt fühlten, sich an mich wendeten. Da habe ich Anzeigen und Berichte gefertigt. Einen Kollegen, der unberechtigt gewalttätig und übergriffig war, habe ich angezeigt. Das hatte mit Rechtsextremismus aber nichts zu tun. Ein dickes Fell muss man haben, wenn Polizist:innen, und das ist mir auch immer wieder passiert, bei Kontrollen von Personen mit Zuwanderungsgeschichte angegangen werden mit dem Spruch „Sie kontrollieren mich nur, weil ich Ausländer bin“. Derartige Situationen muss man auch beim zehnten Mal gelassen mit kommunikativen Mitteln lösen. Insgesamt habe ich eine rechtsstaatliche, auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehende Polizei erlebt. Wie oft haben wir Gesetzestexte gewälzt, um unsere Befugnisse zu überprüfen, um zu schauen, wo die Maßnahme enden muss. Das habe ich genau so regelmäßig bei größeren Demos erlebt, dass die Einsatzleitungen kontrovers und intensiv ausgelotet haben, was Polizei darf und wo die Grenzen sind.

Was sollte sich bei der Polizei unbedingt ändern?
Es sollte mehr Pragmatismus Einzug halten. Nicht so viele Leitfäden und Erlasse, die den kleinsten Schritt vorschreiben. Weniger Debatten über die ewige Frage „Wer ist zuständig“. Einfach machen, wenn es geht und passt – aber immer im Rahmen der rechtsstaatlichen Befugnisse! Mehr Mut zur Verantwortung bei allen Mitarbeitenden. Es sollte mehr Supervisionen geben, Reflektionen über das eigene Handeln. „Die Polizei“ gibt es ja sowieso nicht. Die Polizei ist die Summe der einzelnen bei ihr arbeitenden Akteur:innen. Diese Akteur:innen sollten mehr über den Tellerrand blicken – und das auch im Rahmen ihres Dienstes können. Da passiert derzeit einiges. Ein spannender Prozess.

Du hast als Kontaktbeamter und Ansprechpartner für interkulturelle Angelegenheiten häufig in der Öffentlichkeit gestanden. Es gab zahlreiche Medienberichte über dich, du hast aber auch immer wieder an Kulturprojekten mitgewirkt. Wirst du diese Öffentlichkeit vermissen?
Ganz klar: Nein. Wahrscheinlich nicht. Vielleicht ein bisschen.

Zusätzlich zu deiner beruflichen Arbeit hast du dich auch ehrenamtlich engagiert. Zum Beispiel bei Wegweiser e. V., dem örtlichen Präventionsprogramm des Landes NRW gegen religiös begründeten Extremismus. Oder bei der Lobby für Demokratie. Wirst du diese Ehrenämter fortführen?
Ich räume gerade auf. Eine Pensionierung ist ein willkommener Anlass für eine Zäsur.

Bleibt deine Stelle in Zukunft bestehen?
Die Stelle bleibt so bestehen, als Vollzeitstelle. Ich arbeite seit September vergangenen Jahres mit Frank Rohmann zusammen, der ab dem 1. Juli meine Stelle vollinhaltlich und vollverantwortlich übernehmen wird.

Was, wozu du bisher nicht gekommen bist, möchtest du im Ruhestand unbedingt machen?
Ich muss den Keller aufräumen. Ich möchte loslassen. Oder es zumindest lernen.

Wenn du heute noch mal entscheiden könntest, würdest du den Beruf des Polizisten wieder wählen?
Da ich mich ja damals nicht wirklich bewusst und gewollt für diesen Beruf entschieden habe, sondern mehr oder weniger die Umstände für meine Ausbildung verantwortlich waren, ich mich also nun bewusst und gewollt fiktiv entscheiden soll und darf, dann würde ich mich – von der damaligen Situation ausgehend, diesmal aber ohne materiellen Zwang – für den Lehrerberuf entscheiden. Dann hätte es aber andere Fragen gegeben. Oder keine. Dann wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Es gibt ja keinen Testlauf fürs Leben. Aber das ist eine Binsenweisheit. Die Entscheidung des Lebens, angesichts der damaligen Umstände, die war, rückblickend betrachtet, schon gut. Richtig gut.

2 Kommentare

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Wunderbare Antworten, neben der Schablone. Ehrlich. Ich hoffe, dass ich mich in 3 Jahren auch dem Keller widmen kann.
Sehr schönes Interview!

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