Alexandra Wehrmann im Interview – „Die Dias faszinierten mich auf Anhieb“

Es muss schon etwas Besonderes passieren, damit ich ein Selbstgespräch führe. Aber das ist ja jetzt der Fall. Unter dem Titel „Mischpoke. Familienangelegenheiten“ erscheint am 11. April 2023 mein neues Buch, eine Anthologie, an der insgesamt 24 Autor:innen mitgewirkt haben. Einen Verlag habe ich auch gegründet. Grund genug also, mir selbst ein paar Fragen zu stellen.

Wie bist du zu den Dias gekommen?
Die Dias stammen aus der Familie von meinem Freund Markus. Nach dem Tod seiner Mutter im November 2021 standen sie plötzlich in seiner Küche. Markus hatte sie aus der Garage geholt, um sie durchzuschauen. Er wollte einige davon im Rahmen der Beerdigungszeremonie zeigen. Ich schaute mir also die Bilder an von Markus’ Mutter, die ich nie kennengelernt hatte. Die Dias zeigten nicht nur die Kernfamilie, Vater, Mutter und zwei Kinder, sondern auch Onkel, Tanten, Omas, Opas, Cousins, Cousinen. Markus hat eine große Familie. Sein Vater stammte aus Nordspanien. Insofern waren viele Bilder auch dort aufgenommen, die restlichen in der Pfalz, wo er mit seiner Familie in den 1970er und 80er Jahren lebte.
Ich war auf Anhieb fasziniert von den Dias. Viele Stunden verbrachte ich damit, sie auf einem kleinen Leuchtkasten zu sichten und die in meinen Augen interessantesten auszusortieren. Das waren ungefähr 100 Bilder. Ich mochte die Motive. Wohnwagen vor gewitterblauem Himmel. Mann auf Kamel. Kind mit Fahrrad und Kopfverband. Mann auf Luftmatratze liegend mit Teller auf dem Bauch. Mutter im Partykeller mit Fassbinder-Lookalike. Büfetts gab es auch reichlich. Frühstücksbilder. Am allerbesten gefiel mir, dass die Dias so ramponiert waren, verschmutzt, zerkratzt – und dann waren da noch die Farbkränze. Die Dias lagerten lange Jahre fast vergessen in der Garage. Und die war während des Jahrhunderthochwassers im Sommer 2021 überflutet worden. Das Wasser hatte Substanzen mitgebracht, Chemikalien vermutlich, die wiederum Farbkränze auf die Bilder gezeichnet hatten. Die verliefen nunmehr quer durch Gesichter, machten Details unkenntlich, mache wirkten aber auch wie Rahmen. Sie machten die Bilder unverwechselbar.

Wie entstand die Idee zu dem Buch?
Dass ich mit den Bildern etwas machen wollte, wusste ich sofort. Zunächst aber nicht genau, was. Ich zeigte sie dann Markus Luigs, einem Freund, Designer und Fotografen, mit dem ich das Buch „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“ gemacht hatte. Er konnte meine Begeisterung nachvollziehen. So nahmen die Dinge ihren Lauf. Ich beschloss, den Bildern Texte zur Seite zu stellen, Texte zum Thema Familie. Die sollten von möglichst unterschiedlichen Menschen kommen und so fragte ich ungefähr 50 Leute an, schickte ihnen den Link zu den Dias, die wir mittlerweile eingescannt hatten. Die Adressierten waren nicht ausschließlich Schreibende, Autor:innen, Journalist:innen oder Dichter:innen, sondern auch Musiker:innen, Theatermacher:innen, Comiczeichner:innen oder Maler:innen. Die meisten sagten, als meine Anfrage kam, sofort zu. Obwohl damals ja völlig unklar war, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln würde. In den folgenden Wochen und Monaten erreichten mich zahlreiche Beiträge völlig unterschiedlicher Art. Und je mehr eingingen, desto sicherer war ich mir: Das sollte veröffentlicht werden. Nicht nur im Netz, sondern in Buchform.
Bis heute gefällt mir die Vorstellung, dass aus einem traurigen Ereignis, dem Tod von Markus’ Mutter, letztendlich etwas Schönes entstanden ist. Etwas, an dem im besten Fall nicht nur ich Freude habe, sondern auch Andere. So hoffe ich jedenfalls.

Bis das Buch fertig war, war es ein langer Weg.
Ja, allerdings. Ich musste mich unter anderem mit Markus darüber einigen, wie genau die Bilder verwendet werden dürfen. Er hat oder hatte ja im Gegensatz zu mir zu den abgebildeten Menschen einen persönlichen Bezug. Insofern waren unsere Interessen manchmal unterschiedlich.
Die meisten Texte waren vor ungefähr einem Jahr bereits da. Ich habe sie dann gelesen, Anmerkungen geschickt, manche wurden noch mal überarbeitet und und und. Irgendwann traf ich eine Auswahl für das Buch. Aber auch alle anderen Beiträge werden peu à peu veröffentlicht, auf der Webseite mischpoke-online.com.

Was sind das für Texte, die die Schreibenden, dir geschickt haben?
Ganz unterschiedliche. Erzählungen. Gedichte. Texte, die mutmaßlich sehr nah an der Wirklichkeit sind, aber auch komplett fiktive. Ein Beitrag besteht ausschließlich aus E-Mails. Die meisten Texte sind von der Tonalität her eher leise, melancholisch, manchmal auch traurig. Der, der mich persönlich am meisten berührt hat, stammt von der Journalistin Anne Florack. Sie hat über ihren Bruder geschrieben, den sie offenbar sehr geliebt hat und der verstorben ist. Der Text ist eine Aneinanderreihung zärtlicher Erinnerungen an ihn. Der Tod kommt in den Texten häufiger vor, auch als selbstgewählter. Auf Anhieb fällt mir jetzt gerade kein Text ein, der so richtig fröhlich daherkommt. Da hätte ich mir durchaus ein breiteres Spektrum gewünscht. Aber das konnte und wollte ich nicht beeinflussen. In der Themenwahl, in dem, was sie erzählen, waren die Beteiligten völlig frei.

Gab es denn keine Vorgaben?
Die Texte sollten nicht allzu lang sein. Ich wollte gerne, dass Bilder und Texte im Buch möglichst gleichberechtigt nebeneinander stehen. Letztendlich haben dann doch die Texte ein Übergewicht bekommen. So ist das manchmal, die Dinge entwickeln sich. Inhaltlich war meine einzige Vorgabe, dass es um das Thema Familie gehen soll. Aber das haben die Schreibenden auch unterschiedlich weit gefasst. Philipp Holstein, Kulturredakteur der „Rheinischen Post“, hat zum Beispiel über eine Freundschaft geschrieben. Zwei Jungs, 11, 12 vielleicht, die sich jeden Tag nach der Schule treffen, um auf dem Kleiderschrank zu hocken und die ewig gleiche LP zu hören: „Fragezeichen“ von Nena. Irgendwann zieht dann der eine weg, gar nicht mal besonders weit. Aber die 60 Kilometer Distanz, die nunmehr da sind, überlebt die Freundschaft nicht. Sie besuchen sich kein einziges Mal, trotz allem, was sie gemeinsam erlebt haben, allem, was sie verbindet. Jahre später treffen sich die beiden, mittlerweile Jugendliche, dann auf der Kirmes wieder – und nichts ist wie früher. Sie sind sich fremd geworden, haben sich nichts mehr zu sagen. Eine Situation, die so oder ähnlich vermutlich viele schon erlebt haben. Sie birgt viel Identifikationspotenzial. Und Philipp hat sie grandios aufgeschrieben. Der Text trägt übrigens einen Titel, der aus einem Nena-Song von der LP „Fragezeichen“ geborgt ist: Er heißt „Gestern, das liegt mir nicht“.

Was sind weitere Themen?
In dem Text von Maren Jungclaus geht es um einen römischen Onkel, der lange durch Abwesenheit glänzte, aber zu einem runden Geburtstag nun anreist und damit die ganze Familie durcheinander wirbelt. Maren erzählt die Geschichte in E-Mails, die zwischen unterschiedlichen Familienmitgliedern hin und her gehen. Raffiniert gemacht. Sebastian Brück schreibt über einen kauzigen, ziemlich alten Onkel, der in einer Hochhaussiedlung wohnt, in gebrauchten Möbeln, und ab und zu in einer Hängematte schläft. Der im Sommer längere Phasen im Eifel Nationalpark im Wald lebt und Lebensmittel und sonstige Dinge bevorzugt als Sonderangebote erwirbt. Und auch Felix Krakau weiß von einem schrägen Onkel zu berichten. Onkel Danni, der davon träumt, den Mount Everest zu besteigen, es aber letzten Endes nur auf den Toten Mann schafft. Immerhin, ein Anfang. Insgesamt haben es 24 Texte ins Buch geschafft. 156 Seiten sind es geworden. Das ist auch mehr, als ich ursprünglich geplant hatte. Aber das war ja beim Oberbilk-Buch ähnlich…

Hast du selbst auch einen Text beigesteuert?
Ja. Er trägt den Titel „Vogelkunde“ und handelt von meinem Vater. Mein Vater war begeisterter Ornithologe. Wenn er vom Dienst kam, er arbeitete als Beamter bei der Bundeswehrverwaltung, hat er bevorzugt auf dem Balkon gesessen, von dem aus man in ein angrenzendes Waldstück schauen konnte. Mit einem Fernglas hat er nach Vögeln Ausschau gehalten. Hatte er dann einen besonderen, seltenen Vogel erspäht, hat er das notiert. Mein Vater ist kurz vor Weihnachten ganz plötzlich verstorben. Ich konnte ihm meinen Text leider nicht mehr zeigen, hoffe aber, dass er sich erkannt hätte. Das Buch habe ich ihm jedenfalls gewidmet. Als ich nach seinem Tod seine Sachen durchgeschaut habe, habe ich die Vogel-Aufzeichnungen gefunden. Ein echter Schatz! Er hatte alles handschriftlich notiert. Datum, Ort und eben die Vogelart. Die Aufzeichnungen lauteten in etwa so: „Am 25.03.1980 gegenüber Hausnummer 4 einen Seidenschwanz gesehen“. Den Eintrag hatte er rot eingerahmt. Der Seidenschwanz scheint ein besonders seltener Vogel zu sein. Ich kannte ihn vorher gar nicht.

Wie kamst du zu dem Titel, „Mischpoke“?
Der Titel war sofort da und stand im Laufe des Projekts auch nie zur Debatte. Der Begriff „Mischpoke“ stammt ursprünglich ja aus dem Jiddischen und bedeutet so viel wie Familie, Gesellschaft, Sippschaft. Im Jiddischen ist die Bezeichnung völlig wertneutral, während im Deutschen eine gewisse Geringschätzigkeit mitschwingt. Das passt in meinen Augen ganz gut. Familie kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen.

Um das Buch zu veröffentlichen, hast du auch einen Verlag gegründet?
Ja, den Connaisseur Verlag. Ein Connaisseur ist jemand, der sich gut auskennt in Kunst und Kulinarik. Das gefiel mir. Außerdem ist das Französische eine Verbindung zu meinem Blog.

Was ist in Zukunft im Connaisseur Verlag geplant?
Tatsächlich arbeiten wir gerade schon an einer Idee für ein zweites Buch. Wir, das sind in dem Fall die Düsseldorfer Schriftstellerin Vera Vorneweg – auch sie hat einen Text für „Mischpoke“ verfasst – und der Fotograf Markus Luigs. Wir haben gerade das Exposé fertiggestellt und versuchen jetzt, die Finanzierung des Ganzen zu sichern. So ein Buch drucken zu lassen, ist ja nicht zuletzt wegen der gestiegenen Papierpreise mittlerweile wahnsinnig teuer geworden.

Welche Auflage hast du von „Mischpoke“ drucken lassen?
Verglichen mit Oberbilk nur eine sehr kleine. Diesmal mache ich ja alles alleine. Den Vertrieb, die Pressearbeit, Veranstaltungen organisieren und was sonst noch alles so anfällt. Auch die Gestaltung des Buchs war mir sehr wichtig. Deshalb bin ich total glücklich, dass Markus Luigs das übernommen hat. Das Buch soll, so hat es Markus zuletzt formuliert, „eine Pretiose“ sein. Ein Buch für besondere Momente.

Wie sind die Reaktionen bisher?
Das Feedback ist schon ziemlich gut. Es gab tatsächlich viele Menschen, die – ohne die leiseste Ahnung zu haben, worum es in dem Buch geht oder wie es aussieht – schon vorbestellt haben. Das ist natürlich ein unglaublicher Vertrauensvorschuss. Ich hoffe, sie sind hinterher nicht enttäuscht.

Sind Veranstaltungen geplant?
Bisher gab es lediglich ein exklusives Vorab-Event für Vorbesteller:innen: das Mischpoke-Dinner. Ein sehr besonderer Abend war das, weil die Texte aus dem Buch zum allerersten Mal öffentlich vorgetragen wurden. Es war allerdings eine sehr kleine Öffentlichkeit: Nur sechs geladene Gäste waren anwesend. Die kamen auch in den Genuss von Borschtsch und Spitzkohl-Salat. Und zum Nachtisch gab es sehr süße Süßwaren vom Syrer gegenüber.

Gibt es auch Lesungen für die Allgemeinheit?
Gibt es auch. Wir präsentieren das Buch am 28. April an einem sehr besonderen Ort in Oberbilk. Mit dabei sind an dem Abend sechs Autor:innen, die ihre Beiträge vorlesen werden. Jedem Text wird ein Musikstück zur Seite gestellt. Die Moderation des Abends übernimmt Sven-André Dreyer, der auch ein Gedicht zu „Mischpoke“ beigesteuert hat. Darüber hinaus hatte Markus Luigs die Idee, Salon-Lesungen zu machen. Lesungen in privatem Rahmen. Bei Menschen, die uns zu sich einladen. Das finde ich sehr reizvoll und würde es gerne realisieren. Ist aber natürlich auch aufwendig. Mal schauen, ob ich, ob wir die Zeit finden, all die Ideen, die bis jetzt nur in unseren Köpfen existieren, umzusetzen. Es sind nämlich ganz schön viele.

„Mischpoke. Familienangelegenheiten“ ist im Connaisseur Verlag erschienen. Es kostet 25 Euro zzgl. 4 Euro Porto/Versand und kann unter schalom@mischpoke-online.com bestellt werden. Außerdem ist es im Büro Luigs, Lichtstraße 39, Düsseldorf zu erwerben.

28.4. Buch-Präsentation, Kölner Straße 240, Düsseldorf, Eintritt frei, mit Sven-André Dreyer (auch Moderation), Philipp Holstein, Vera Vorneweg, Anne Florack, Katja Vaders, Felix Krakau und Alexandra Wehrmann

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