Als Nils Becker Anfang März an dem Haus an der Ellerstraße vorbeikam, versuchte er zunächst mal, sich selbst zu beruhigen. Die Seitenwand, auf der sein „Schaukelpferd“ prangte, wurde eingerüstet. Das könnte alles Mögliche bedeuten. Dacharbeiten zum Beispiel. Kurz darauf war der 44-Jährige wieder vor Ort – und sah seine Hoffnung nicht bestätigt. Keine Dacharbeiten. Stattdessen fand er die komplette Seitenwand des Hauses an der Ellerstraße 110 schwarz grundiert vor. Becker sprach einen der beiden Männer auf dem Gerüst an. Ergebnis des kurzen Austauschs: Bei dem Motiv, das auf dem Haus entstehen sollte, handelt es sich um eine Werbung. Wenige Tage nach dem Beginn der Arbeiten ist sie fertig. Ein fotorealistisches Motiv – „handwerklich zweifelsohne gut gemacht“, wie Becker einräumt – und auf den ersten Blick kaum als Werbung zu erkennen. Ein üppig tätowierter Mützenträger, dessen Shirt mit einem Schriftzug versehen ist, der auf das Düsseldorfer Streetwear-Label LFDY verweist.
„Scheiß die Wand an!“
Becker postet bei Facebook ein Foto seiner Arbeit, die nunmehr Vergangenheit ist: „Lang lebe der Untergang“ schreibt er dazu. Die Reaktionen von Kollegen lassen nicht lange auf sich warten. „Scheiß die Wand an! Werbung“, schreibt Max Fiedler. „Sehr schade“, findet Klaus Klinger. Und Rapper Killa Calles, der in direkter Nachbarschaft der Wand wohnt, beschreibt seine Gefühlslage so: „Ich trauer auch. Das arme Pony und jetzt jeden Tag den tätowierten Hansel da sehen müssen…“
Entstanden ist Nils Beckers „Pferdchen“, wie es familienintern genannt wird, 2013 im Rahmen des „40 Grad Urban Art Festivals“. Becker hat die Wand damals selbst organisiert. „Ich habe den Hausbesitzer direkt angesprochen“, erinnert er sich. Man habe sich daraufhin vor Ort verabredet. „Das persönliche Treffen war definitiv sehr nett.“ Der Besitzer stellte die Hauswand zur Verfügung, an den Kosten beteiligen wollte er sich allerdings nicht. Das sei aber bei diesem Projekt nichts Ungewöhnliches, verrät Becker. Zwei Wochenenden verbrachte er im Vorfeld des Festivals an der Wand, um das Bild fertigzustellen. Das „arg in die Jahre gekommene Gerüst“ hatte er vom Kinderclub Kiefernstraße geliehen. Die Materialkosten wurden aus dem Budget des „40 Grad Urban Art Festivals“ bezahlt. Ein Künstlerhonorar oder auch nur eine Aufwandsentschädigung erhielt Becker nicht. „Für die erste Ausgabe des Festivals im Jahr 2013 haben wir vom Kulturamt lediglich 8.000 Euro bekommen“, sagt Klaus Klinger, Mitorganisator des „40 Grad Urban Art Festivals“, das reiche gerade mal fürs Material. Auch wenn der Zuschuss von Seiten der Stadt mittlerweile auf 30.000 Euro gestiegen ist, könne man die Künstler:innen bis heute nicht für ihre Arbeit entlohnen, so Klinger weiter: „Das ist eigentlich ein unhaltbarer Zustand, weil sie ja einen wesentlichen Anteil an der Verschönerung des Stadtbilds haben.“
Graffiti und Moral
Nils Becker, der seit vielen Jahren in Oberbilk lebt, kommt mehrmals in der Woche an der Wand auf der Ellerstraße vorbei, auf der siebeneinhalb Jahre seine Arbeit zu sehen war. Auch einige Wochen, nachdem sie verschwunden ist, verspürt er immer noch eine Mischung aus Enttäuschung und Ärger. „Egal ist mir das absolut nicht.“ An den vielbeschworenen Ehrenkodex der Graffiti-Szene, der besagt, dass man die Arbeit einer/s anderen nicht übermalt, halte sich nach seiner Wahrnehmung kaum noch jemand, so Becker: „Im Zuge von Graffiti über Moral zu sprechen, erscheint mir auch seltsam.“ Dennoch mache es für ihn durchaus einen Unterschied, ob ein Bild, das man illegal auf einer x-beliebigen Wand hinterlassen habe, von jemand anderem übermalt werde, oder eine Arbeit, die offiziell im Rahmen eines Festivals entstanden ist, durch eine Werbung ersetzt werde – und das auch noch ohne den Künstler vorab darüber zu informieren. „Im Fall der Ellerstraße siegt Kommerz über Kunst – darüber muss man gar nicht diskutieren. Das ist einfach nur schlimm“, findet Becker. Auch Klaus Klinger, Urgestein der landeshauptstädtischen Wandmalszene, plädiert dafür, die Bereiche auseinanderzuhalten: „Kunst und Werbung sind völlig unterschiedliche Dinge und sollten absolut getrennt bleiben. Kommerzielle Werbung benutzt Kunst, hat aber nur eine Botschaft: kaufen! Kunst sollte andere Botschaften haben.“ Entsprechend wenig hält Klinger auch von dem jüngsten werbenden Motiv, das kurz nach Erscheinen des Mützenmannes auf der Mindener Straße aufgebracht wurde. Verantwortlich für das Bild – eine Gruppe von Figuren, die Sneakers eines bekannten Sportartikelherstellers tragen, dazu ein Slogan, der auf einen lokalen Schuhladen referiert – zeichnet der Düsseldorfer Kj263. Letzterer gibt sich auf Anfrage zunächst gesprächsbereit, möchte sich aber nach zweieinhalbstündigem Gespräch partout nicht zitieren lassen. Auch andere potenzielle Gesprächspartner bleiben auffällig schmallippig, kaum jemand möchte sich offiziell äußern. Die Reaktionen lassen darauf schließen, dass das Thema innerhalb der Szene stark polarisiert.
„Tradition der handgemalten Werbebilder“
Fakt ist: Wie mit vielen anderen Formen der Werbung ist auch mit der beschriebenen gutes Geld zu verdienen. Mittlerweile gibt es Agenturen, die in jeder größeren deutschen Stadt Zugriff auf Wände haben – und sie ihren Kunden für Werbung anbieten. Eine dieser Agenturen heißt Cromatics und hat Büros in Dresden und Berlin. Man sehe sich „in der alten Tradition der handgemalten Werbebilder“, heißt es in einem Anschreiben, das an mögliche Kooperationspartner versendet wird und das theycallitkleinparis vorliegt. Cromatics hat in der Vergangenheit bereits Wandwerbung für Unternehmen wie adidas, Redbull, Netflix, Seat oder H&M umgesetzt. Die meisten Beispiele dieser Form von Werbung finden sich wenig überraschend in Berlin, aber auch in Köln, Hamburg, Rostock oder Dresden hat diese relativ neue Form der Werbung bereits Einzug gehalten. Die ersten beiden Hauswände, auf denen in Düsseldorf mit gesprühten Bildern für unterschiedliche Produkte geworben wurde, liegen am S-Bahnhof Flingern. Sie stechen, wenn man mit dem Zug vorbeifährt, direkt ins Auge. Auch die Agentur Cromatics hat eine der Wände bereits genutzt – für eine Kampagne der deutschen Fluggesellschaft Lufthansa. Auf 260 Quadratmetern Fläche war dort der Slogan „Findet es die Welt schade, wenn wir sie uns nicht anschauen“ zu lesen. „Mit einem Fernglas in Stenciloptik, blauem Himmel mit weißen Wolken und einer Frage an die Welt kommt das Mural ganz denkerisch daher“ – so beschreibt die Agentur das Motiv ihres Kunden auf ihrer Firmenwebseite. Die LFDY-Werbung an der Ellerstraße wurde ebenfalls von Cromatics realisiert. Die Nachfrage nach derartigen Flächen scheint groß zu sein. Die Agentur bemüht sich daher derzeit, ihr Angebot an Wänden in Düsseldorf und anderen Städten auszubauen.
Fachmännisch neutralisiert
Zu diesem Zweck werden Schreiben an Besitzer, teilweise auch an Mieter, jener Gebäude gesendet, die für die großflächigen Werbemotive geeignet erscheinen. „Gerne wollen wir euch bzw. den Eigentümer:innen des Objekts anbieten, die Außenfassade kostenfrei in unser Portfolio aufzunehmen, um in Zukunft möglichst viele gemeinsame Projekte umsetzen zu können“ heißt es da. Je nach Budget und Projekt zwischen 3.000 und 6.000 Euro Miete verspricht man Hausbesitzern, die ihre Wände zur Verfügung stellen, monatlich. Selbstverständlich könne man vor jedem Projekt individuell entscheiden, ob das geplante Motiv zusagt. Cromatics übernehme dabei das Projektmanagement, betreue die Künstler und organisiere die benötigten Gewerke und Genehmigungen. „Werbung im öffentlichen Raum, gerade in einer solchen Größe, muss von der Stadt auf jeden Fall genehmigt werden“, weiß Klaus Klinger. Im Fall des LFDY-Motivs an der Ellerstraße hat man sich um eine solche Genehmigung nicht bemüht, wie ein Stadtsprecher auf Anfrage wissen ließ: „Der Sachverhalt wird daher ordnungsbehördlich geprüft“, hieß es am 22. März. Zweieinhalb Wochen später hat der Mützenmann die Ellerstraße verlassen. Die Seitenwand von Hausnummer 110 ist nunmehr monochrom weiß. In der Regel bleibt eine gesprühte Werbung 28 Tage an der jeweiligen Fassade. Im Anschluss wird letztere durch die Agentur „fachmännisch neutralisiert“, das heißt, die Wand wird in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt – und ist somit bereit für den nächsten Auftrag. In Zeiträumen ohne kommerzielle Buchung möchte Cromatics in Zukunft Künstler:innen die Möglichkeit geben, sich auf den Wänden zu präsentieren. Eigens um die Kunstprojekte zu finanzieren, hat die Agentur einen Fond ins Leben gerufen, in den ein Teil der Einnahmen aus der Werbung fließt.
Money, Money, Money
Nils Becker nützt all das nichts mehr. Leicht amüsiert hat er zur Kenntnis genommen, dass die Werbung an der Ellerstraße zwischenzeitlich eine „Überarbeitung“ erfahren hatte. Unten auf der Wand wurde der Imperativ „and give me all your money“ ergänzt. Viele der überwiegend jungen, männlichen Kunden von LFDY sind der Aufforderung offenbar bereits nachgekommen. Auf der Webseite teilt das Unternehmen jedenfalls mit, dass die Lieferzeit innerhalb von Deutschland derzeit ca. sieben Werktage beträgt, „aufgrund des erhöhten Bestellaufkommens“. Scheint so, als sei die Strategie, auf klassische Werbung zu verzichten und die Produkte in erster Linie über die Sozialen Medien zu bewerben, aufgegangen. Der Umsatz der Firma sei in den vergangenen vier Jahren im Durchschnitt um 160 Prozent gestiegen, sagt jedenfalls Karl Krumland, Finanzchef des Unternehmens, laut einem Beitrag der FAZ aus dem April 2021. „Im vergangenen Jahr betrug der Erlös rund 34,5 Millionen Euro; gegenüber dem Vorjahr war das fast eine Verdreifachung“, heißt es dort.
Platz genug?
Nils Beckers „Pferdchen“ sind derart astronomische Summen fremd. Es galoppiert durch die ewigen Jagdgründe, während sich auf der Wand an der Ellerstraße und vielen vergleichbaren Flächen in der Stadt in Zukunft Energy-Drink-Hersteller, Brauereien und Automobilkonzerne die Klinke in die Hand geben könnten. Für jene, die das Malen übernehmen, ist das – im Gegensatz zu den künstlerischen Arbeiten, die meist unbezahlt sind – ein einträglicher Job. Wenn Sprayer solche Aufträge ausführen, sei das für ihn in Ordnung, sagt Oliver Räke, der sich unter dem Künstlernamen „Magic“ schon seit Jahrzehnten den öffentlichen Raum aneignet. „Platz gibt es ja genug.“ Nils Becker findet, jede:r Sprüher:in müsse für sich entscheiden, ob er derartige Aufträge annehme. „Ich selbst würd’s nicht machen.“ Grundsätzlich sei es ihm „völlig wumpe“, dass Werbung auf Fassaden gesprüht werde. Im Fall der Ellerstraße störe ihn in erster Linie das rigorose Vorgehen der Agentur. „Wände gibt es in der Stadt ja genug. Da muss man nicht hingehen und Werke anderer Künstler plattmachen.“ Aus eigener Erfahrung weiß Becker aber, wie viele Hausbesitzer man ansprechen muss, um eine Wand zur Verfügung gestellt zu bekommen. Nicht selten werde in dem Zusammenhang schon jetzt die Frage gestellt „Was bekomme ich denn dafür“, erzählt Klaus Klinger. Genau das könnte in Zukunft der springende Punkt sein. Wer seine Wand an eine Agentur vermietet, kann mit geringem Aufwand Einnahmen von bis zu 72.000 Euro pro Jahr generieren. Die Gruppe derer, die dieses Geld links liegen lässt, um der Kunst den Vorzug zu geben, dürfte mutmaßlich ziemlich überschaubar sein.
Hintergrund
Folgende Personen und Firmen wollten in dem Rahmen keine Auskunft geben: die Kreativagentur Cromatics, LFDY, der Besitzer des Hauses an der Ellerstraße, der Hotelbetreiber, der die Räume im Haus auf der Ellerstraße gemietet hat
4 Kommentare
KommentierenHier fanden es alle schade das die Fassade wieder überstrichen wurde das Bild war sehr schön viele haben in der kurzen Zeit fotos gemacht. Vom Pferd keiner 🙂
Und jeder Besitzer kann doch selber entscheiden was er an seiner wand haben möchte.
Nein, alle fanden es nicht schade, dass der Mützenmann verschwunden ist. Es geht auch weniger um das Motiv an sich, als um die Tatsache, dass es sich um eine Werbung handelt, und zwar eine Werbung im öffentlichen Raum. Und: Nein, in dem Fall kann der Hausbesitzer eben nicht alleine entscheiden, was auf seiner Hauswand zu sehen ist. Und das ist auch gut so, denn der öffentliche Raum gehört allen.
Ich danke dir, Alexandra, für deine Anfrage.
So hat es das Pferdchen doch noch ins „Geschichtsbuch“ geschafft ^^
Ich danke dir für die Gesprächsbereitschaft. Hat ja in dem Zusammenhang nicht jeder an den Tag gelegt. Auf viele weitere Wände mit Kunst im düsseligen Dorf!