Barbara Kempnich (Bahnhofsmission) im Interview – „Das Menschliche ist dem Konsum und Verkehr untergeordnet“

Seit Juli 2016 bietet die Bahnhofsmission regelmäßig sogenannte „Quartiersspaziergänge“ an, in deren Rahmen die Teilnehmer die Gegend rund um den Bahnhof erkunden. Anfangs fanden Sie alle zwei Monate statt, mittlerweile an jedem letzten Mittwoch im Monat. Die nächste Ausgabe am 31. Mai widmet sich dem japanischen Viertel rund um die Immermannstraße. theycallitkleinparis hat mit Barbara Kempnich, der Leiterin der Bahnhofsmission, gesprochen.

Wie entstand die Idee der Quartiersspaziergänge?
Zum Auftakt unseres Quartiersprojekts, das seit 2015 läuft und durch einen Spender finanziert wird, gab es ein Quartiersfest. In dessen Rahmen bot Dirk Sauerborn, der Kontakt-Beamte der Polizei, einen Rundgang an, der sehr gut angenommen wurde. Das brachte uns, meine Kollegin Neele Behler und mich, auf die Idee, auch Spaziergänge zu gestalten, bei denen die Nachbarn gemeinsam ihr Viertel kennenlernen und sich gegenseitig untereinander. Uns war von Anfang an wichtig, unterschiedliche Perspektiven und Blickwinkel herauszufinden und deutlich zu machen. Außerdem sollten die Spaziergänge flexibel von allen, die mitgehen, mitgestaltet werden können. Längerfristiges Wunsch-Ziel ist, dass Nachbarn ihre Ideen zu Spaziergängen selber verwirklichen und andere dazu einladen.

Zu welchen Themen fanden bisher Spaziergänge statt?
Es gab bisher unter anderem Spaziergänge unter der Überschrift „Maghreb-Viertel“, „Warum man einen Spaziergang nicht am Hbf beginnen sollte“, „Schwules Leben in Stadtmitte“ und zuletzt „Rausch in der Stadt“.

Der nächste, den ihr anbietet, führt am 30.5. ins japanische Viertel rund um die Immermannstraße. Was erwartet die Teilnehmer?
Frau Kishimura führt mit ihrer Tochter Hazuki, die in Düsseldorf geboren ist und in der Bahnhofsmission mithilft, den Spaziergang. Wir besuchen einen Supermarkt, das Hotel Nikko, einen Tatami-Raum, einen Manga- und einen Soba-Laden.

Wer erarbeitet die Rundgänge?
Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal kommen Menschen mit Ideen auf uns zu, manchmal entstehen sie in unserer „Kunst im Bahnhof“- Gruppe oder durch einen Kontakt in der Quartiersarbeit. Mit den Experten für die jeweilige Spaziergangsperspektive führen wir Gespräche oder mailen hin und her, bis das Konzept steht.

Nun gibt es ja wesentlich attraktivere Veedel zum Spazieren. Gerresheim zum Beispiel. Kaiserswerth. Oder vielleicht Itter. Warum also gerade das Bahnhofsviertel?
Weil der Bahnhof als Ort die Arbeit der Bahnhofsmission grundlegend definiert und unser Arbeitsplatz ist. Neele Behler arbeitet außerdem im „Projekt altengerechtes Quartier Stadtmitte“. Mit den Spaziergängen durchstreifen wir also einen Bereich, der für uns beide Arbeitsgebiet ist. Außerdem ist diese Stadtmitte mit ihrem Bahnhof, den an starken Tagen 300 000 Menschen passieren, ein zentraler und wichtiger Ort für die Stadt und für die Menschen. Dieser Ort zieht neben Reisenden auch viele Menschen mit Schwierigkeiten an. Deshalb sollten wir ihn so lebenswert wie möglich gestalten. Für alle, die ihn nutzen. Die Spaziergänge helfen uns dabei, die Punkte zu finden, die unseren Blick für die unterschiedlichen Bedürfnisse an diesem Ort öffnen und an ihre positiven Aspekte anzuknüpfen.

Wie ist die Resonanz? Was für Leute schließen sich euren Spaziergängen an, sind es überwiegend Anwohner aus der Bahnhofsgegend?
Die Resonanz ist positiv, ungefähr 25 Teilnehmer haben wir pro Rundgang. Das Gros der Leute sind Anwohner, aber auch Interessierte aus anderen Stadtteilen. Wer mitkommt, richtet sich natürlich stark nach dem jeweiligen Thema. Bei Themen wie „schwul“ oder „Rausch“ hatten ältere Nachbarn zum Beispiel zunächst das Gefühl, das sei nichts für sie. Hinterher waren sie dann froh, dass sie doch mitgekommen sind und sagten: „Jetzt verstehe ich die andere Sichtweise viel besser“.

Wie nehmen die Menschen generell das Viertel wahr?
Sie haben ihre Wege gefunden und weichen den Bereichen aus, die für sie fremd sind oder ihnen Angst machen. Das ist für sie ein realistischer Umgang zum Beispiel mit Angst vor Kriminalität. Gleichzeitig freuen sie sich sehr, wenn sie gemeinsam mit anderen, neue Bereiche und Blickwinkel erkunden und ihre realen und gedanklichen Möglichkeiten erweitern können.

Was nervt sie?
Der omnipräsente Autoverkehr, die zeitweise sehr vielen Menschen, der destruktive Umgang der Suchtkranken mit sich und der Umwelt. Die Hässlichkeit, wenig Grün und Ruhe. Direkt um den Bahnhof gibt es vieles, das ungeordnet erscheint und wenig, worauf man sich verlassen kann. Man kann die Augen nicht ausruhen, von Körper und Seele ganz zu schweigen. Das Menschliche ist dem Konsum und Verkehr untergeordnet.

Ganz schön viel Negatives. Und was gefällt?
Kleine Oasen im Gewusel: die Bäume vor dem Bahnhof und auf der Eisenstraße, die bunten Gemüseläden an der Ellerstraße, die Vielfalt an unterschiedlichen Menschen, Cafés, Stadtbibliothek und Volkshochschule, die Nähe zu Altstadt und Zentrum, manchmal auch die Anonymität.

Über die Neu-Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes wird ja schon seit Jahren gesprochen. Welche Veränderungen würdest du dir wünschen?
Ich würde mir mehr Grün wünschen und ein zukunftsorientiertes ökologisch verantwortliches Verkehrskonzept. Die Vielfalt der Verkehrsmittel müsste kooperativ verbunden werden, natürlich alles barrierefrei. Es bräuchte Oasen zum Ausruhen, Kunst, überall, wo möglich, eine gute Architektur, klare Linien und ein klares Lichtkonzept. Und nicht zuletzt ein einheitliches ruhiges und ästhetisches Informationsleitsystem, dem die Interessen der Werbung eindeutig untergeordnet sind. Mehrsprachig, auch für Blinde und Menschen, die eingeschränkt sind. Im Moment gilt ja die Handlungs-Maxime „Geld vor Mensch“. Jeder Kubikzentimeter wird nach Prinzipien der Gewinnmaximierung quasi ausgewrungen – das ist für die Menschen unerträglich und gesundheitsschädlich. Wenn es ein mit Vernunft und Ästhetik gestalteter lebenswerter Ort wäre, würde sich das auch für die Wirtschaft auszahlen.

Deine drei Lieblingsorte in direkter Bahnhofsnähe?
Der Garten von Düsselgrün, der Hinterhof des W57 auf der Worringer Straße und der Bertha-von-Suttner-Platz.

Am 9. Mai ist der Startschuss zu einem weiteren von der Bahnhofsmission verantworteten Projekt gefallen, den sogenannten „Wunderkammern“. Was genau verbirgt sich dahinter?
Es ist ein künstlerisches und soziales Projekt, das die Vernetzungen im Bahnhofsviertel neben den Spaziergängen stärken soll. Nachbarn oder Institutionen können eine Wunderkammer mit den Dingen, Symbolen oder Ideen gestalten, die ihre Perspektive im Quartier deutlich machen. Den Prozess begleiten Markus Ambach und Irene Hohenbüchler mit uns. Im Sommer 2018 stellen wir die Wunderkammern dann gemeinsam aus und machen zur Eröffnung ein großes Quartiersfest.

29.5., 18 Uhr, Wunderkammern, VHS/Saal 2, Bertha-von-Suttner-Platz 1, Düsseldorf
31.5., 17 Uhr, Quartiersspaziergang „Japantown Stadtmitte“, Treffpunkt: Bahnhofsmission im Hbf (zwischen den Aufgängen 11/12 und 13/14)

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