Ulrike Möschel im Interview – „Der Worringer Platz ist künstlerisch eine Herausforderung“

Es geschah zu einem Zeitpunkt, da die meisten Menschen mit Essen und Verdauen beschäftigt waren. „Zwischen den Jahren“ wurde auf die Fassade des Hauses Ackerstraße 3 ein Vers des türkischen Lyrikers Ilhan Berk aufgebracht. Nicht mit Farbe, sondern mit Kreide. Flüchtige Kunst, die in einigen Wochen wieder verschwunden sein wird. Ausgedacht hat sich das Ganze die Düsseldorfer Künstlerin Ulrike Möschel. theycallitkleinparis hat mit ihr gesprochen.

Deine Arbeit ist im Rahmen des Kunstprojekts Gasthof Worringer Platz entstanden, das Haus Ackerstraße 3 liegt ja fast direkt am Platz. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Oliver Gather und Andrea Knobloch?
Andrea und Oliver hatten mich im Sommer 2015 angesprochen, ein Projekt für die Veranstaltungsreihe „Lesezimmer“ des Gasthofs Worringer Platz zu machen. Andrea hatte im Jahr zuvor eine Wand-Schriftarbeit von mir mit einem Gedicht von Marie T. Martin in der Galerie Rupert Pfab gesehen. Ich traf mich mit den beiden auf dem Platz und habe angefangen, Ideen und Vorschläge für den Ort zu entwickeln. Durch das Format „Lesezimmer“ war die Fokussierung auf Text bzw. Schrift von Anfang an gegeben. Ich habe gemerkt, dass sich Andrea und Oliver extrem gut mit dem Platz auskennen. Sie kennen fast jede Ecke, kennen die Haus- und Ladenbesitzer, haben gute Kontakte zu den Menschen, die dort leben, arbeiten oder sich ständig aufhalten. Das war sehr wichtig für das Arbeiten vor Ort.

Ursprünglich wolltet ihr mit zwei Hauswänden arbeiten. Warum musstet ihr umdisponieren?
Weil wir die Genehmigungen der Hauseigentümer für die entsprechenden Fassaden nicht bekamen. Wir wollten eigentlich die deutsche und die türkische Version des Verses aufbringen, auf zwei nebeneinanderliegende Wände, es sollte aussehen wie ein aufgeschlagenes Buch. Das hat dann leider nicht geklappt. Es blieb als einzige Fassade, auf der ich arbeiten konnte, die der Ackerstraße 3. Das Gebäude, das der Hausverwaltung Benkwitz gehört, beherbergt eine Sprachschule – ein Zufall, der mir sehr gefällt, da der Vers eine Übersetzungsarbeit darstellt. Die Hausverwaltung war dem Projekt gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Seilkletterer, mit denen wir zusammenarbeiteten, durften zum Beispiel ihre Verspannungen in den Innenräumen des obersten Geschosses anbringen, um sich von den Balkonen abseilen zu können. Ich bin sehr glücklich mit diesem Ort, besonders schön ist, wie der Himmel die Baulücke neben der Brandwand füllt. Die Schrift ist schon von Weitem zu sehen. Auf der Karlstraße fährt man mit dem Auto regelrecht auf sie zu.

Hat die Arbeit eigentlich einen Titel?
„Gitti Gök“, das heißt „der Himmel ging“ auf Türkisch.

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Foto: Ulrike Möschel, Courtesy Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf

Die komplette Zeile lautet „Der Himmel hat seine Vögel genommen und ist gegangen“. Sie stammt von dem türkischen Lyriker Ilhan Berk. Wie genau bist du auf ihn gekommen?
Ich bin dem Vers in der Übersetzung des deutschen Lyrikers Achim Wagner eher zufällig begegnet. Ich bin mit Achim seit einem Istanbul-Aufenthalt 2010 bekannt und seine Gedichte lese ich sehr gerne. Da Achim viel auf Reisen ist, werfe ich schon mal einen Blick in seine digitalen Notizen, Blogs etc. im Internet. Ich hatte den übersetzten Vers um Ostern 2015 gelesen und die Worte hatten mich sofort berührt. Ich schrieb sie in mein Skizzenbuch, in dem ich erst einmal alles sammele, was mein Interesse erregt. Als ich im Sommer vergangenen Jahres dabei war, für den Worringer Platz Vorschläge zu entwickeln, fiel mir meine eigene Notiz wieder in die Hände. Der Satz spiegelt etwas Melancholisches, Tragisches wieder, hat aber auch etwas Poetisches, zum Handeln Aufforderndes. Diese Art der Poesie konnte der unpoetische Worringer Platz meiner Meinung nach gut gebrauchen. Ein Großteil der Anrainer des Platzes sind türkischsprachig und über dem Platz spannt sich ja auch der Himmel auf. Ganz viel Himmel gibt es da, wie eine Öffnung nach oben.

Du kanntest Berk und sein Werk also vorher nicht?
Nein, es existieren auch nicht viele Übersetzungen ins Deutsche. Als mir der Vers ins Auge fiel, habe ich mich über Berk kundig gemacht und mich mit Achim Wagner, dem Übersetzer, darüber ausgetauscht.

Wann wurde der Schriftzug auf das Haus an der Ackerstraße aufgebracht?
Am 29. Dezember 2015, also in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, einer Übergangszeit zwischen den Jahren. Es wurde an diesem Tag von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr gearbeitet, also von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Zeitlich irgendwie zu den Worten passend, nicht wahr?

Ihr konntet weder mit einem Baugerüst noch mit Hebebühnen oder Steigern arbeiten. Wie wurde die Schrift auf die Fassade aufgebracht?
Die Jungs von Seilkraft haben das gemacht, das sind ziemliche coole Industriekletterer. Selbst die Installation der Arbeit, des Abseilens von oben war mit dem Gedicht stimmig. Vögeln gleich hingen die Kletterer in ihren Seilen und schwebten vor der Wand.

Der Schriftzug ist nicht mit Farbe, sondern mit Kreide aufgebracht. Warum war es dir wichtig, dass die Schrift flüchtig, ja vergänglich ist?
Der Schriftzug besteht nur aus aufgetupften und in die Wand eingeriebenem Pigment. Zu den Vögeln, zum Himmel, zur Lyrik passte für mich nichts Festes: Der Wind, der Regen, die ja auch mit dem Himmel zu tun haben, lassen die Schrift verschwinden. Die Vergänglichkeit der Schrift hebt ihre monumentale Größe auf. Erst sollte die Schrift übrigens schwarz sein. Dabei dachte ich an das Verlaufen von Wimperntusche und daran, dass die Buchstaben weinen sollten. Als es Winter wurde, fand ich es geeigneter, mit der hellen Schrift auf den Winterhimmel, die frühe Dunkelheit am Abend und den möglichen Schnee zu reagieren.

Was denkst du, wie lange wird es dauern, bis der Schriftzug wieder verschwunden ist?
Keine Ahnung. Ich hoffe, sie ist noch ein paar Wochen zu sehen.

Es gibt sogar Fotos von der Fassadenschrift, die an Silvester entstanden sind. Hast du am Platz gefeiert?
Ich war Silvester extra vor Ort, um Fotos zu machen. Diese Lichtsituationen wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Wie sind die Reaktionen auf die Arbeit?
In meinem künstlerischen Umfeld gab es bis jetzt sehr viel Zuspruch, worüber ich mich sehr freue. Die Arbeit wird aufgrund ihrer Größe auf jeden Fall wahrgenommen. Wie es meistens bei Arbeiten im öffentlichen Raum der Fall ist, rechne ich mit einem breiten Spektrum von Reaktionen: Von zärtlicher Zustimmung bis aggressiver Ablehnung und allen möglichen Schattierungen dazwischen.

Die offizielle Eröffnung findet am 10.1. im Billard-Forum statt. Was erwartet die Besucher an dem Abend?
Wir treffen uns, unterhalten uns, trinken etwas, spielen Billard. Von den Fenstern des Billard-Forums hat man einen besonders guten Blick auf die Arbeit.

Der Worringer Platz wird ja von vielen in der Stadt als Schandfleck wahrgenommen. Wie stehst du zu ihm?
Künstlerisch war und ist der Platz auf jeden Fall eine große Herausforderung. Ich sehe ihn, seitdem ich dieses Projekt realisiert habe, mit anderen Augen. Ich habe viel Zeit auf dem Platz verbracht und es sind sogar neue Zeichnungen entstanden, die mit diesem Ort zu tun haben. Der Worringer Platz ist eine riesengroße Verkehrsinsel, ein ständiger Transitraum, also eher ein Antiplatz, der von Hauptverkehrsachsen gebildet wird. Es ist laut, wer sich dort ständig im Freien aufhält, führt meist ein hartes Leben am Rande der Gesellschaft. Es ist kein Platz zum müßigen Verweilen, kein städtischer Platz zum Ausruhen oder Repräsentieren, wie es einer bürgerlichen Vorstellung entspringt. Ich sehe den Worringer Platz vor allem als Teil der gesellschaftlichen, aber auch historischen Realität. Es kommt drauf an, worauf sich das Wort „Schandfleck“ bezieht: Bezieht es sich auf die Männer und Frauen, die einen Großteil ihrer Zeit in der Öffentlichkeit auf dem Platz verbringen, so halte ich diese Bezeichnung für menschenverachtend. Bezieht es sich auf die Architektur, dann bin ich der Meinung, am Worringer Platz spiegelt sich auch ein Teil der Baugeschichte Düsseldorfs nach dem zweiten Weltkrieg. Das ist doch spannend und sagt viel über eine Gesellschaft aus. Das Wort „Schandfleck“ ist mir zu wertend und vor allem zu wenig konstruktiv. Ich kann mit so einer pauschalen, eindimensionalen Formulierung nichts anfangen. Es gab und gibt am und um den Worringer Platz viele selbstorganisierte Künstlerprojekte. Der Platz ist ein immens kreatives Biotop innerhalb der Stadt, an dem immer wieder Neues entsteht. Dennoch war es zuerst sehr schwierig für mich, auf dem Platz in eine künstlerische Arbeitsstimmung zu kommen, Assoziationen, Gedanken, Erinnerungen zuzulassen. Nach einer Weile ging es aber, plötzlich dachte ich mitten auf dem Platz an Venedig, die Zufahrtsstraßen wurden zu Kanälen und eng beieinanderstehende Hauswände bildeten einen Platz wie eine Bühne.

Wie muss man sich von der Wandarbeit mal abgesehen deine künstlerischen Arbeiten vorstellen? Was sind deine Themen, deine Materialien?
Ich arbeite in den Bereichen Zeichnung, Video/Bewegtbild und Bildhauerei. Ich mache gerne ortsspezifische Installationen, beschäftige mich mit Veränderungen von alltäglichen Gegenständen und der gewohnten Wahrnehmung von Räumen. Dabei können Verunsicherungen, Verrückungen, Zerbrechlichkeiten, absurde Dysfunktionen und visuelle Irritationen entstehen. Ich arbeite mit einer Vielzahl vom Motiven: Vögel und Himmel zählen dazu. Es gibt viele Zeichnungen von mir, die sich mit den schwarzen Vogelsilhouetten bei Breughel auseinandersetzen. 2011 habe ich eine Videoarbeit produziert, die den Titel „Gök“, also Himmel, trägt. In dieser Arbeit kommen ebenfalls Vögel vor.

Was sind deine nächsten Projekte? Wird in naher Zukunft in Düsseldorf wieder etwas von dir zu sehen sein?
Jetzt gibt es erst einmal diese Schriftarbeit zu sehen und zu lesen. Möglicherweise wird auf der Fassade noch die türkische Version des Verses auftauchen, nachdem der deutsche Text verwischt und verweht worden ist. Man sollte die Wand also im Auge behalten.

10.1., 18 Uhr, Eröffnung „Gitti Gök“, Billard-Forum (1. Stock), Kölner Str. 67, Düsseldorf

2 Kommentare

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Liebe Elcin,
vielen Dank für den Hinweis! Ich habe die entsprechenden Stellen im Text bereits korrigiert.

Ulrike Möschel im Interview – „Der Worringer Platz ist künstlerisch eine Herausforderung“

Das Interview habe ich mit Interesse gelesen.

Während eines kurzfristigen Aufenthalts in Düsseldorf, sind die Schriften plötzlich in meinen Augen auffällig geworden. Ich weiß nicht warum, aber da musste ich dann paar Minuten stehen bleiben. Mir war alles irgendwie doch bekannt aber trotzdem in Düsseldorf hatte es eine andere Wirkung und Bedeutung zugleich. Ich habe tatsächlich spontan an den Weltkrieg gedacht … „Der Himmel hat seine Vögel genommen und ist gegangen…“ … Ziemlich traurig…

„Kuşlarını (da) alıp gitti gök. “ heißt es auf Türkisch.

Deshalb hier nur eine kleine Korrektur: der Himmel=Gök
Göc bedeutet etwas Anderes 😉

Danke für das Interview. Nachdem ich diese Kunstarbeit gesehen habe, habe ich mir wirklich überlegt gehabt, was da im Backstage so geschehen ist… 🙂
Sehr interessant!

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