Till Kampfhenkel im Interview (1) – „Wir waren Leva-Millionäre“

Go West? Von wegen! Till Kampfhenkel ist in seinem Leben fast ausschließlich nach Osten gereist. Besonders die ehemaligen Sowjet-Republiken haben es dem Düsseldorfer angetan. Klassische Sehenswürdigkeiten lässt er auf seinen Trips ganz bewusst links liegen. Stattdessen interessieren ihn die Skurrilitäten des Alltags: Rolltreppenwächterinnen, klapprige Busse, Hotels mit Personal, dem Servicementalität, wie man sie im Westen kennt, völlig fremd ist. theycallitkleinparis hat mit Till Kampfhenkel gesprochen.

Till, der Grundstein für deine Liebe zum Osten wurde schon früh gelegt. Als deine Eltern ein russisches Auto erwarben…
In der Tat, unser Lada war meine früheste Sozialismus-Erfahrung. Gekauft haben ihn meine Eltern, kein Witz, bei „Lada Ulbricht“ in Wuppertal. Mehr Sozialismus ging zu dem Zeitpunkt nicht. Um überhaupt Ladas in Umlauf zu bringen, hatte der Händler seinerzeit viel Geld für den völlig toten VW meiner Eltern bezahlt. Mein Vater hat dann zusätzlich noch durchgesetzt, dass in die Sandelholzkonsole des Lada ein Loch gesägt wurde, damit das VW-Radio reinpasste. Der Besuch bei „Lada Ulbricht“ endete damit, dass der schmierig-freundliche Autoverkäufer die Sägespäne mit einem öligen Lappen vom Armaturenbrett wischte mit den Worten „Öl macht neu“. Da dachte ich: Okay, so läuft das also hier.

Warum haben deine Eltern sich für ein russisches Fabrikat entschieden? Das war doch zu der Zeit eher ungewöhnlich.
Das war nicht zuletzt auch eine Geldfrage. Bei unserer Familie lag das Geld nicht stapelweise rum. Und ein Lada war damals für 9.900 D-Mark das günstigste Auto, das du bekommen konntest, als Kombi. Am Ende war das ein Nachbau vom Fiat 124 aus den Sechzigern. Gebaut wurde der Lada in Russland, in Toljatti, das ist eine Autostadt, in der überwiegend Fiat-Modelle nachgebaut wurden. Der Lada machte auf den ersten Blick einen ganz robusten Eindruck, auf den zweiten war er dann nicht ganz so robust. Aber mit ein bisschen schrauberischem Geschick konnte man das Ding in Betrieb halten.

Auch über den Wagen hinaus gab es in eurer Familie keine Vorbehalte gegenüber dem Osten, vielleicht sogar eine gewisse Affinität.
Stimmt. Mein Vater hat Ende der Sechziger Jahre unter merkwürdigen Umständen versucht, für Krupp eine Papierfabrik in Rumänien aufzubauen, was zumindest zum Teil auch gelungen ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten hierzulande, für die Russland und der Rest des Ostens in der Zeit des Kalten Kriegs der Satan war, hatte mein Vater an Rumänien nichts auszusetzen. Er mochte die Menschen und ihr Improvisationstalent. Man muss sich halt damit arrangieren, dass es anders ist als hier – das galt damals und das gilt bis heute.

Diese Erfahrung hat sich auch in Bulgarien bestätigt. Dort habt ihr 1979 einen Pauschalurlaub verbracht, deine Eltern, deine ältere Schwester und du.
Das war mein erster Kontakt mit Osteuropa, ja. Da war ich neun oder zehn. Damals lag Bulgarien noch hinter dem eisernen Vorhang. Da taten sich völlig fremde Welten auf! Es gab diesen DDR-Effekt: Eben war noch Farbfernsehen – und plötzlich war alles schwarz-weiß. Ein Grauschleier über allem. In Bulgarien gab es damals ähnlich wie in der DDR sogenannte Intershops. Dort konnte man gegen Devisen auch Westwaren kaufen. Im Hotel bekamst du Frühstücksgutscheine. Der Umtauschkurs D-Mark in Leva war völlig utopisch. Schwarz konntest du natürlich zu einem wesentlich besseren Kurs tauschen. Mein Vater ist dann immer Geld tauschen gegangen, im Dunkeln, hinter fünf Ecken. Dann konnten wir es krachen lassen. Wir waren Leva-Millionäre! Ich erinnere mich, dass ich Schnitzel zum Frühstück gegessen habe. Und die russischen Blechspielzeuge haben mich fasziniert. Raketen, Mondfahrzeuge, Kosmonauten. Ich fand das seltsam, aber es gefiel mir auch. Ich war allerdings das einzige Familienmitglied, das das so sah. Deshalb war es der erste und letzte Bulgarien-Urlaub mit der Family.

Danach hast du dann also gezwungenermaßen, du warst ja noch ein Kind, eine längere Pause in Sachen Osten eingelegt. Nach der Wende ging es weiter, zunächst mal in die neuen Bundesländer…
Erste Amtshandlung nach dem Mauerfall war: über die Grenze fahren und gucken, ob das wirklich so Scheiße ist, wie alle sagen. Bis dahin kannte ich nur die Transit-Strecke nach Berlin. Nach der Wende ging’s dann mal nach Magdeburg, mal nach Karl-Marx-Stadt oder nach Ostberlin. Irgendwann konnte man auch nach Tschechien, nach Polen. Tschechien war das erste Land, das aufs Tapet kam. Das war noch grauer als die DDR. So habe ich mich immer weiter nach Osten vorgewagt. Ich hatte damals mein erstes Auto, ein völliger Schrotthaufen, und bin – auch zusammen mit Freunden – immer für verlängerte Wochenenden in den Osten gefahren. Manchmal haben wir zu fünft im Auto gepennt, im Sitzen. Wenn morgens die erste Bahnhofskneipe aufgemacht hat, sind wir da aufgeschlagen. Viel blödes Zeug gekauft haben wir auch, einfach nur, weil es billig war.

Was denn zum Beispiel?
Meiner Schwester habe ich DDR-Tampons mitgebracht. Das waren Riesenteile, deren Oberfläche Schmirgelpapier ähnelte. Halb kaputte Werkzeuge aus DDR-Produktion waren auch sehr beliebt. Hämmer mit zu kurzem Stiel. Die Ostwaren wurden ja damals verramscht. Und wir waren dankbare Abnehmer. Schrott-Wichteln auf Ost.

Welcher Ort in der ehemaligen DDR hat bei dir besonderen Eindruck hinterlassen?
Halberstadt. Halberstadt ist inzwischen dank Soli und Steuergeldern wieder ein Schmuckkästchen. Als wir da waren, sah es dort aus wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Stadt war völlig im Arsch. Fachwerkhäuser, von denen nur noch das Holzgerippe stand. Halb verfallene Altbauten. Durch dieses Weltkriegsszenario ratterte eine Tatra-Straßenbahn. Im Stadtkern, so habe ich es in Erinnerung, wohnten kaum Menschen. Die lebten alle im Plattenbau am Stadtrand. Besonders gut habe ich auch Chemnitz in Erinnerung. Dort hatte ich über myspace einen Musiker kennengelernt. In Chemnitz gab es einen tollen Club, das Atomino, das gibt es heute noch. Nach der Wende war der Laden im ersten Stock von einem Plattenbau. Total geil. Nette Leute, gezapftes Bier, kleine Preise und tolle Live-Musik. Ein-, zweimal bin ich seinerzeit für Konzerte nach Chemnitz gefahren.

Dein Radius hat sich dann kontinuierlich erweitert. Irgendwann warst du im Nahen Osten angekommen. Welche Länder hast du dort bereist?
Jemen, Ägypten, Jordanien, alles, was mir spannend erschien. Im Jemen war Siggi, der später auch Teil unserer Osteuropa-Truppe war, mit dabei. Ich erinnere mich, dass wir abends mit Milizionären zusammengesessen haben, die Kalaschnikows um den Hals trugen. Sie erklärten uns, dass die Waffe eher wie eine Krawatte sei und sie sie gar nicht zum Kämpfen verwenden wollten. Bei der Jemen-Tour sind wir irgendwann in the middle of nowhere auf einem Waffen-Basar gelandet. Völlig absurd! In kleinen Hütten, wie man sie von hiesigen Weihnachtsmärkten kennt, wurden Kalaschnikows verkauft oder Boden-Luft-Raketen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass jemand uns was wollte. Die Einheimischen fanden uns ein bisschen merkwürdig, aber wir sind freundlich miteinander umgegangen. Als dann der Irak-Krieg begann, waren Reisen in den Nahen Osten nicht mehr möglich. Da habe ich mich dann wieder auf Osteuropa konzentriert.

Das war Ende der Neunziger Jahren. Zu der Zeit hat sich eure dreiköpfige Reisegruppe bestehend aus Joachim, dem schon erwähnten Siggi und dir herausgebildet, mit der ihr über viele Jahre Osteuropa erkundet habt. Woher kennt ihr euch?
Joachim kenne ich seit der fünften oder sechsten Klasse. Wir haben viel zusammen gefeiert, Konzerte besucht. Siggi habe ich 1989 kennengelernt, beim Schüleraustausch in Israel. Er ist mittlerweile leider nicht mehr dabei, weil er vor einiger Zeit einen Schlaganfall hatte. Jetzt sind wir also nur noch zu zweit.

Wie oft unternehmt ihr Touren?
Mittlerweile gehen wir einmal im Jahr auf Tour, immer zwei Wochen. Das wird auch von allen geduldet. Zwischendurch mache ich aber auch mit meiner Frau Mädchen-Urlaube. Spanien, Portugal, Italien oder Ostsee. Das sind zwei unterschiedliche Welten, die ich beide ganz gut ab kann.

Und eure Gemahlinnen verspüren keine Lust mit in den Osten zu kommen?
Definitiv nein. Sowohl Joachims als auch meine Frau sind froh, nicht, niemals dabei zu sein.

Aber du bringst deiner besseren Hälfte doch bestimmt Geschenke mit, oder? 2023 wart ihr ja in Usbekistan. Welches Souvenir hast du dort erworben?
Aus Usbekistan habe ich der Gemahlin eine usbekische Hirtenmütze mitgebracht. Das Ding ist riesengroß und sieht ziemlich funky aus.

Wo hat es euch auf euren Ost-Touren im Laufe der Jahre so hin verschlagen?
Wir sind gerne nach Bulgarien geflogen. Anfangs noch mit der Tupolew, da durfte man hinten noch rauchen. Vor Ort sind wir dann mit dem ÖPNV rumgefahren. Das war ziemlich abenteuerlich. Wir konnten ja die kyrillische Schrift nicht lesen, es sprach auch niemand englisch oder deutsch. Wir sind einfach in einen Bus oder eine Bahn eingestiegen und haben geschaut, wo die Reise hingeht. Die Busse hatten häufig Löcher im Boden, die Sitze kippten nach hinten weg. Andere hätte das vielleicht genervt, wir fanden es spannend und lustig. Gewohnt haben wir in Bulgarien oft bei Privatleuten. Am Busbahnhof standen immer Ommas mit Schildern. Uns war klar: Die haben Zimmer zu vermieten. Eine Verständigung über diese Vermutung hinaus war nicht möglich. Die Omma erzählte uns was. Wir verstanden nichts, nickten – und taperten ihr hinterher. Sie machte ihr Zimmer für die Gäste aus dem Westen frei und zog in eine Garage. Das Flair, das so eine Omma-Wohnung im Osten hat, war für uns immer sehr reizvoll. Kuscheldecken mit Blumenmotiven, Wandteppiche, preiswerte Möbel aus Ostproduktion, Klobrillen aus dünnem Kunststoff, die nach links und rechts rutschten. Nicht zu vergessen das Klopapier, in dem halbe Baumstämme enthalten waren. Nachdem wir uns eine Weile in Bus und Straßenbahn vergnügt hatten, haben wir uns dann, Verständigung mit Händen und Füßen, einen Fernzug gebucht, von Sofia an die Küste. Das war eine ganz neue Dimension! Völlig abgetakelte DDR-Waggons, sehr langsam alles, aber du bist immer ans Ziel gekommen. Anders als bei der Deutschen Bahn! In Albanien hat Joachim mal mit einer Geschwindigkeitsapp das Tempo gemessen. Da fuhren wir 17 km/h. In der Spitze.

Euer Trüppchen hat sich im Laufe der nächsten Jahre langsam immer weiter nach Osten vorgearbeitet.
Ja, nach Bulgarien war der nächste Step die Ukraine. Erst die West-Ukraine. Lwiw. Dann haben wir uns so langsam durch das ganze Land gefressen. Wenn du heute nach Krakau oder Danzig fährst, ist das schon sehr westlich geworden. Schön, klar, aber wenn du das Andere suchst, musst du tiefer in den Osten. Wenn wir heute nach Bulgarien fahren, zieht es uns in die tiefste Provinz, an die rumänische Grenze. Da haben wir Spaß gehabt, in Städten, die noch wie früher sind. Am Reißbrett entstanden. Das Kombinat, die Parteizentrale, dazwischen die Magistrale. Kleiner Aufmarschplatz und daneben schöne Plattenbauten. Ich finde es spannend, dass diese Struktur, die sich irgendwann mal jemand überlegt hat, bis heute existiert. Die Leute vor Ort wünschen sich wahrscheinlich eher eine Shopping-Mall. Aber für uns ist es so, wie es ist, genau richtig.

Tatra-Straßenbahn, Foto: Till Kampfhenkel

Gab es Länder, in die es euch immer wieder gezogen hat?
Ja, in Bulgarien und der Ukraine waren wir am häufigsten. Alles, was man da mit Bus und Bahn machen kann, haben wir gemacht. Ich habe ein Faible für alte, robuste Technik. Was hier in Mitteleuropa den Sechziger und Siebziger Jahren gelaufen ist, fährt im Osten immer noch. Es ist toll, zu sehen, in welchen haarsträubenden Zuständen diese Zombie-Bahnen immer noch zuverlässig fahren, rappelig, krachend, langsam, aber sie fahren. Sie fahren auch Strecken, die man hier schon längst zugemacht hätte, weil sie nicht rentabel sind. Odessa ist beispielsweise eine super schöne Stadt mit bizarren Straßenbahnlinien. Dort haben wir – ich meine jedenfalls, es war in Odessa – die längste Straßenbahnfahrt all unserer Reisen unternommen. Die Bahn tuckerte aus der Stadt raus, an Stränden vorbei, durch Kornfelder und endete irgendwann an einem verlassenen Kombinat. Das war wohl früher mal Schwerindustrie gewesen. Mittlerweile war alles verfallen. In den Ruinen waren Autoschraubbetriebe, die offensichtlich an LKWs, Ladas oder Mercedes rumgeschraubten. Die Gastronomie an der Endhaltestelle schenkte ausschließlich ein Getränk aus: Wodka. Der wurde in Plastikbechern serviert. Zur Mittagszeit, als wir da waren, strömten aus den Ruinen Männer in Blaumännern. Sie kippten sich ihren Mittagspausen-Wodka hinter die Binde und gingen im Anschluss zurück an die Arbeit – mutmaßlich ohne Schweißer-Maske und ohne Arbeitsschuhe. Wir sind dann mit der übernächsten Bahn wieder eine Stunde in die Innenstadt gefahren. Das Schöne an den Endhaltestellentouren ist, dass man nie weiß, was einen erwartet.

Endhaltenstellen-Gastronomie in Bishkek, Kirgisistan, Foto: Till Kampfhenkel
Biergarten Endhaltestelle Taschkent, Foto: Till Kampfhenkel

Ihr scheint mittlerweile ein gutes Gespür dafür entwickelt zu haben, wo etwas Ungewöhnliches passieren könnte, scheint mir.
Da könntest du recht haben. Skurrile Situationen ziehen uns irgendwie an – und umgekehrt. Einmal kamen wir zum Beispiel im Nahverkehrszug aus der Ukraine in dem polnischen Grenzort Przemysl an und waren sehr überrascht, als uns Männer in Nazi-Uniformen entgegen kamen. Das waren verkleidete Polen, die den Zweiten Weltkrieg nachgespielt haben. Mit Panzern und allem drum und dran. Przemysl war völlig ausgebucht, deshalb mussten wir im Eisenbahner-Wohnheim unterkommen. Die Einrichtung war eher minimalistisch. Es gab nur kaltes Wasser. Und ein Gemeinschaftsplumpsklo. Wenn sich so etwas nicht vermeiden lässt, habe ich damit kein größeres Problem. Aber am darauffolgenden Tag möchte ich dann eine nettere Unterkunft haben, in der man sich dann wieder ein bisschen aufhübschen kann. Mit einem Bett ohne Wanzen! Zwei Wochen am Stück nur in Assels-Unterkünften – das machen wir heute nicht mehr.

Hotel Usbekistan, Taschkent, Foto: Till Kampfhenkel

Du bist mittlerweile Mitte 50. Welche Auswirkung hat das fortgeschrittene Alter auf die Art eures Reisens?
Ich merke schon, dass langsam eine gewisse Altersbequemlichkeit Einzug hält. Das Hotel für die erste Nacht buchen wir uns mittlerweile von zuhause aus. Das war früher nicht angesagt. In Kasachstan oder zum Teil auch in der Ukraine kommen die Flüge schon mal nachts um drei an. Die haben scheinbar ein Tagflugverbot. In Tiflis haben wir mal fünf Stunden an der Flughafenbar gesessen, bis der erste Bus in die Stadt fuhr. Als wir im Hotel ankamen, waren wir sternhagelvoll. Leider waren die Zimmer noch nicht fertig. Wir haben dann auf den Sofas in der Hotellobby gepennt, neben einem Gummibaum. Inzwischen sind wir milder geworden. Ab und an gönnen wir uns sogar mal ein Taxi. Manchmal ist es auch gar nicht anders möglich. In Usbekistan, wo wir 2023 waren, gibt es zum Beispiel keine Straßenbahnen mehr. Die fand der Diktator nicht hip und hat alle Gleise raus reißen lassen. Sollen die Leute halt das Auto nehmen! In einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt es mittlerweile ein Ost-Uber, Yandex nennt sich das. Jeder, der ein Handy hat, kann Fahrgäste mitnehmen. Das ist noch billiger als Bus oder Bahn fahren.

Der zweite Teil des Interviews erscheint in Kürze.

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