Same same but different: Überall ist Lessingstraße

Ich habe ein Faible für Stadtpläne, die im öffentlichen Raum stehen, um den Menschen jenseits des Digitalen Orientierung zu bieten. Wenn ich einen solchen Plan ausmache, bleibe ich eigentlich immer stehen, um mich in die zweidimensionale Darstellung der Straßen und Plätze zu vertiefen. Um Dinge, die ich bereits gesehen, Orte, die ich bereits besucht habe, im Gesamtkontext zu sehen. Aber auch, um die Karte auf weitere eventuell interessante Spots hin zu scannen. So war es auch im Ostseebad Rerik, wo ich vor Kurzem zehn Tage Urlaub verbrachte, bei bestem Beachwetter, aber das nur am Rande.

So viel vorab: Rerik hat ungefähr 2.300 Einwohner:innen, die Stadt (ja, Stadt!) ist also nicht unbedingt unübersichtlich groß. Die zentrale Bushaltestelle „Rerik Mitte“ liegt neben dem „Ibo Grill“, der Pizza und Baguettes anbietet, dessen Spezialität aber Döner ist. Direkt gegenüber von Ibos Döner-Paradies findet sich ein Stadtplan, den ich während meiner Zeit vor Ort ein ums andere Mal eingehend betrachtete. Bei einer dieser Betrachtungen stieß ich auf die Lessingstraße, also die Reriker Lessingstraße. In Düsseldorf wohne ich auch auf der Lessingstraße. Obwohl die Straßen in NRW und Mecklenburg-Vorpommern nun denselben Namen tragen, sind die Namensgeber aller Wahrscheinlichkeit nach unterschiedliche. „Unsere“ Lessingstraße, also die in Düsseldorf, ist nach Carl Friedrich Lessing benannt, einem romantischen Maler, der zur „Düsseldorfer Malerschule“ gezählt wird. Die Reriker Lessingstraße ist vermutlich nach dem wesentlich berühmteren Gotthold Ephraim Lessing benannt, einem bedeutenden Dichter der Aufklärung, mit dessen Werken „Minna von Barnhelm“, „Emilia Galotti“ und „Nathan der Weise“ man sich gemeinhin im Deutschunterricht konfrontiert sieht.

Während ich also so da stand, gegenüber der Haltestelle „Rerik Mitte“, und auf den Plan schaute, kam mir eine Idee: Wenn das Ostseebad Rerik mit seinen 2.300 Einwohner:innen eine Lessingstraße hat, haben vermutlich die meisten deutschen Städte eine Lessingstraße. Das ein oder andere Mal waren mir im Vorbeigehen, so erinnerte ich mich, eine aufgefallen, ohne dass ich der Tatsache weiter Beachtung geschenkt hätte. Das solle, beschloss ich spontan, mit Rerik anders werden. Mein Plan: In Zukunft, wenn ich außerhalb von Düsseldorf unterwegs bin, andere Lessingstraßen besuchen und an dieser Stelle darüber berichten. Gesagt, getan. Der Weg vom analogen Ortsplan bis zur Reriker Lessingstraße war nicht weit. Er führte vorbei am Fahrradverleih, am Anglershop, an der Pizzabude und am Edeka-Supermarkt von R. Kaiser. Knapp zehn Minuten, nachdem meine Idee entstanden war, begann ich bereits mit der Umsetzung.

Ich stand an der Schillerstraße Ecke Lessingstraße. Unweit von hier führen zwei Feldwege zum Ostseestrand – einer zur Teufelsschlucht, der andere zur Liebesschlucht. Aber deshalb war ich nicht hier. Ich warf einen ersten Blick in die Straße, wegen der ich gekommen war. Obwohl sie laut Google Maps lediglich 180 Meter lang ist, konnte ich ihr Ende von meinem Standort aus nicht sehen, weil die Straße eine leichte Rechtskurve nahm. Eins fiel mir trotzdem sofort auf: Es war kein einziges Auto zu sehen, kein fahrendes, aber auch kein parkendes. Letzteres wäre auch unmöglich, schließlich ist die Straße so schmal, dass gerade mal ein Auto sie befahren kann, dementsprechend ist sie als Einbahnstraße ausgewiesen. Einen klassischen, gepflasterten Gehweg gibt es, wenn man von der Schillerstraße kommt, lediglich rechts, auf der gegenüberliegenden Seite müssen jene, die zu Fuß unterwegs sind, mit einem Grasstreifen vorlieb nehmen. War in meinem Fall nicht weiter schlimm. Überhaupt glänzten Fußgänger – von mir abgesehen – ebenso durch Abwesenheit wie Autos. Ich ging los und stieß nach ein paar Schritten auf ein brach liegendes Grundstück, das über und über mit Brombeerbüschen überwuchert war. Dahinter liegt das Reriker Mini-Gewerbegebiet, in dem, so hatte ich bei einem anderen Spaziergang durchs Dorf erspäht, unter anderem die Freiwillige Feuerwehr, ein Windkraftanlagenbauer und die Erlebnisräucherei Scheller ansässig sind. Abgesehen von der Brachfläche schien mir die Lessingstraße eine ganz normale Wohnstraße zu sein, drei der Häuser tragen sogar noch das zu DDR-Zeiten obligatorische grau-braun auf der Fassade. Bei einem der drei ragte ein oranges Rohr aus dem Dachfenster, eins jener Art, durch die man Bauschutt in einen darunter stehenden Container entsorgt. Allein der Container fehlte. Ob das Haus noch bewohnt war, ließ sich von außen nicht abschließend klären.

Das weiter vorn liegende Haus Emilia war hingegen mit seinen blau getünchten Holzbalkonen, die in dieser Umgebung fast wie Folklore wirkten, auf den ersten Blick als Unterkunft für Touristen auszumachen. Dafür musste man nicht mal auf die Klingelschilder schauen, was ich natürlich trotzdem tat. Apartment 1 bis Apartment 6 war da zu lesen. Auf der Oberbilker Lessingstraße hätte ich bei derartigen Aufschriften wohl eher an horizontales Gewerbe gedacht. Aber das gab es hier, da war ich mir, wenn auch ortsunkundig, mit ziemlicher Sicherheit nicht.

Ruhig war es auf der Straße. Nur die Vögel zwitscherten sich dem Abend entgegen, nur ab und zu hörte man ein Auto über die nahe Schillerstraße fahren, die Rerik mit dem Nachbarort Meschendorf verbindet. Dort gibt es einen zauberhaft an der Steilküste gelegenen Campingplatz. Ich folgte weiter der Lessingstraße, passierte Häuser, Garagen und Carports, wunderte mich über die zahllosen Satellitenschüsseln und versuchte Blicke in die hinter den Häusern liegenden Gärten zu erhaschen. Dort bot sich mir in einem Fall ein wunderbares Bild: Der Hausbesitzer oder die Hausbesitzerin (das konnte ich aus der Distanz nicht ausmachen) lag im Schatten eines Apfelbaums und übte sich in Müßiggang. Sie oder er las ein Buch, während um sie herum ein Rasenmähroboter dafür sorgte, dass man auf dem Rasen hinter dem Haus an der Lessingstraße Wimbledon austragen könnte.

So weit wird es, da würde ich mich festlegen, nicht kommen. Die Reriker Lessingstraße wird das aushalten. Vielleicht wird das von Brombeerhecken überwucherte Grundstück irgendwann bebaut. Vielleicht wird der Grasstreifen irgendwann durch einen Gehweg ersetzt. Falls nicht, auch nicht schlimm. In einem Ort, der von 2.300 Menschen bewohnt wird, können die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer:innen auch so in Frieden leben. Und E-Scooter sind in Rerik ohnehin unbekannt.

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