Jawahir Cumar im Interview – „Es geht um die Kontrolle der Frau“

Weltweit sind 200 Millionen Frauen beschnitten. Das Thema betrifft also keinesfalls lediglich eine kleine Minderheit. Auch hierzulande steigen die Zahlen der betroffenen und bedrohten Frauen stetig. Entsprechende Aufklärung, Beratung und Hilfe tut also Not. Der Düsseldorfer Verein stop mutilation e.V. engagiert sich bereits seit 1996 in dem Bereich. Seit zehn Jahren verfügt er über eine eigene Beratungsstelle im Salzmannbau, übrigens die einzige ihrer Art in ganz NRW. Jawahir Cumar ist Gründerin und Geschäftsführerin des Vereins. theycallitkleinparis hat mit ihr gesprochen.

Frau Cumar, bei dem Thema Beschneidung denkt man ja zunächst mal an Afrika. Aber es gibt natürlich auch andere Länder, in denen Frauen beschnitten werden.
In der Tat. Das Problem ist keinesfalls ein rein afrikanisches, auch wenn in 29 Ländern des afrikanischen Kontinents Frauen beschnitten werden. Beschneidungen gibt es darüber hinaus auch in einigen Ländern in Südostasien und im Nahen Osten. Beschneidung ist ein weltweites Problem, das auch hier bei uns in Deutschland ein Thema ist.

Aus welchen Gründen werden Frauen beschnitten?
Die Gründe sind vielfältig. Dort, wo ich herkomme, in Somalia, gehen viele Mädchen nicht zur Schule, weil es nur Privatschulen gibt. Viele Eltern können sich das nicht leisten und schicken dann nur ihre Söhne zur Schule. Außerdem werden die Mädchen ja später verheiratet und ihr Mann ernährt dann die Familie. Verheiraten kann man sie aber nur, wenn sie beschnitten sind. Ein weiterer Grund ist, dass eine unbeschnittene Frau als nicht schön oder auch unrein gilt. Es gibt sogar Ethnien, die glauben, wenn eine Frau nicht beschnitten ist und die Klitoris den Mann berührt, stirbt er. Mit Religion hat das Thema übrigens nichts zu tun. In Ägypten zum Beispiel sind etwa 97 Prozent aller Frauen beschnitten. Musliminnen sind dort ebenso betroffen wie beispielsweise koptische Christinnen. Letztendlich geht es bei Beschneidung immer um die Kontrolle der Frau. Sie soll sich nicht entfalten, auch sexuell nicht.

Welche Rolle spielt bei all dem das Bildungsniveau?
Das ist unterschiedlich. In Ländern wie Ägypten, Somalia oder Sudan lassen Ärzte oder Anwälte ihre Töchter genauso beschneiden wie Arbeiter. Dort kann man die Beschneidung sogar im Krankenhaus vornehmen lassen. Das Ganze ist ein gesellschaftlicher Akt. Wenn man akzeptiert werden möchte, gehört er einfach dazu.

Wie geht die Beschneidung vonstatten?
In der Regel wird die Beschneidung von Frauen durchgeführt. Diese traditionellen Beschneiderinnen, in vielen Ländern ist das tatsächlich ein Beruf, verfügen über keinerlei medizinische Kenntnisse. Die Beschneidung wird ohne Narkose vorgenommen, als Werkzeuge dienen Rasierklingen, aber auch Glasscherben oder Messer. Bei uns in Somalia werden alle Mädchen eines Dorfes am gleichen Tag beschnitten. Man feiert ein Fest, es wird getanzt. Die Mädchen bekommen schöne Kleider und haben keine Ahnung, was sie an dem Tag erwartet. Irgendwann werden sie dann geholt und von vier Frauen festgehalten, während die Beschneiderin ihren Job macht. Im Anschluss werden den Mädchen die Beine zusammengebunden, sie müssen sechs Wochen liegen. Während der Beschneidung wird ihnen übrigens gesagt, dass sie darüber mit niemandem sprechen dürften. Sonst passiere etwas Schlimmes. Es gibt also in den betroffenen Ländern keinerlei Austausch unter den Frauen. Das Thema ist komplett tabuisiert.

Man unterscheidet drei Typen von Beschneidung. Welche sind das?
Bei Typ 1 werden die Klitoris und/oder die Klitorisvorhaut teilweise oder vollständig entfernt. Bei Typ 2 werden zusätzlich die kleinen und/oder die großen Schamlippen teilweise oder ganz entfernt. Bei Typ 3 werden die kleinen und/oder die großen Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt, mit oder ohne Entfernung der Klitoris. Außerdem wird die Wunde zusammengenäht bis auf eine winzige Öffnung, in die gerade mal ein Zahnstocher passt. Diese Art der Beschneidung wird vor allem in Dschibuti, Eritrea, Jemen, Oman, Somalia, Sudan, Süd-Sudan und in Teilen Malis praktiziert. Wenn die betroffenen Frauen später verheiratet werden, muss der Ehemann sie regelrecht wieder aufschneiden. Es kann dann monatelang dauern, bis eine Penetration überhaupt möglich ist. Würde man die Beschneidungstypen übrigens auf den Mann übertragen, bedeutete bereits Typ 1 eine komplette Penis-Amputation.

Wie alt sind die Mädchen, wenn sie beschnitten werden?
Je nach Land und Ethnie ist das unterschiedlich. Bei uns in Somalia sind die Mädchen in der Regel zwischen 4 und 12 Jahren alt. In Nigeria hingegen beschneidet man bereits Babys kurz nach der Geburt. Bei den Massai in Kenia passiert es im Zuge der Hochzeitsvorbereitungen.

Welche gesundheitlichen Folgen hat die Beschneidung für die Mädchen und Frauen?
Viele Betroffene leiden unter Schmerzen, Blutungen und Menstruationsbeschwerden. Zudem kommt es häufig zu Entzündungen. Bei Typ 3 dauert das Urinieren in der Regel eine halbe Stunde, weil der Urin nur Tropfen für Tropfen austritt. Wenn die Frauen ihre Tage haben, kann das Blut nicht richtig abfließen und es bilden sich Zysten. Und natürlich haben die Frauen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Probleme bei Schwangerschaft und Geburt.

Wie viele Frauen sind weltweit von Beschneidung betroffen?
Weltweit sind 200 Millionen Frauen betroffen.

Und in Deutschland?
Laut Schätzung von Terre des Femmes aus dem Jahr 2018 sind es knapp 65.000 Mädchen und Frauen. 15.500 Mädchen sind zusätzlich gefährdet.

In Deutschland ist die Beschneidung natürlich ein Straftatbestand. Wie sieht die juristische Situation in anderen Ländern aus?
In Somalia ist die Beschneidung schon seit 1983 qua Gesetz verboten. Trotzdem werden 98 Prozent der Mädchen bis heute beschnitten. Im Sudan sieht es kaum anders aus. Dort gibt es ein entsprechendes Gesetz bereits seit 1948. Trotzdem sind 99 Prozent aller Frauen beschnitten. Die Gesetze sind also das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen.

Ihren Verein stop mutilation e.V. gibt es bereits seit 1996. Die Beratungsstelle im Salzmannbau, übrigens die einzige ihrer Art in ganz NRW, seit nunmehr zehn Jahren. Was war für Sie der Auslöser, sich in dem Bereich zu engagieren?
Zunächst mal bin ich selbst betroffen. Ich lebe mit meiner Familie in Deutschland, seit ich 11 bin. 1996 reiste ich nach Somalia. Ich war in einem Dorf zu Besuch. Dort fand eine Beerdigung statt. Ein 8-jähriges Mädchen war bei der Beschneidung verblutet. Seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen, auch weil ich damals selbst schon eine Tochter hatte. Ich habe gemeinsam mit anderen Frauen überlegt, was wir tun können – und daraufhin haben wir den Verein gegründet.

Was möchten Sie mit stop mutilation e.V. erreichen?
Zunächst einmal geht es uns natürlich um Prävention. Die Mädchen zu schützen ist das A und O. Sehr wichtig ist es uns auch, bereits betroffenen Frauen zu helfen. Dazu kommt Aufklärung. Wir möchten das Thema Beschneidung öffentlich machen, darüber informieren. Vor allem natürlich die Berufsgruppen, die mit betroffenen Frauen und gefährdeten Mädchen zu tun haben. Frauenärzte, Hebammen, Kinderärzte, Erzieher, Lehrer und so weiter. Deshalb organisieren wir auch Schulungen und Fachtagungen zu dem Thema.

Wie sehen Ihre Beratungsangebote konkret aus?
Zum einen beraten und begleiten wir Frauen, die beschnitten sind, bei gesundheitlichen, kulturellen und rechtlichen Problemen. Wir arbeiten eng mit Ärzten, Psychologen und Juristen zusammen und vermitteln die Frauen, wenn nötig, weiter. Einmal im Monat bietet unsere Beratungsstelle eine gynäkologische Sprechstunde für betroffene Frauen mit einem Frauenarzt an. Zum anderen kümmern wir uns um die Mädchen, die akut von Beschneidung bedroht sind. Da kommen häufig Eltern zu uns, aber auch Geschwister, Klassenkameraden oder Lehrer, die etwas mitbekommen haben oder denen eine Veränderung aufgefallen ist. Wir suchen dann das Gespräch mit den entsprechenden Familien und bieten Unterstützung an. Die Beratung kann in mindestens zehn Sprachen stattfinden, darunter Englisch, Französisch und Arabisch. Bei stop mutilation e.V. arbeiten vier Berater, zwei Männer und zwei Frauen. Alle vier kommen aus Afrika und sind mit dem Thema vertraut. Die Frauen übernehmen die Beratung der weiblichen Klienten, Männer die der männlichen.

Wie häufig werden Ihre Angebote in Anspruch genommen?
Sehr, sehr oft. Vergangenes Jahr hatten wir 1325 Einzelberatungen, davon waren übrigens 415 Männer. Das ist sehr wichtig, weil das Wort der Männer in den Herkunftsländern der Menschen viel Gewicht hat. Beschneidungen werden oft von den Großmüttern forciert. Und die lassen sich von einem Mann eher etwas sagen, als von einer Frau.

Finden die Beschneidungen denn auch hier in Deutschland statt? Oder eher im jeweiligen Herkunftsland?
Wir hören immer wieder von Beschneidungen, die hier im Land stattfinden. Die Beschneiderin kommt dann aus Holland, Belgien oder aus London. Andere fliegen im Sommer sechs Wochen in die Heimat und lassen die Mädchen dort beschneiden. Ob beschnitten wird oder nicht ist übrigens nicht zuletzt abhängig von der Perspektive, die die Menschen hier in Deutschland haben. Wenn eine Familie zum Beispiel damit rechnet, jeden Moment abgeschoben zu werden, steigt das Risiko, dass die Tochter beschnitten wird, massiv. Wenn sie hingegen hier eine Bleibe-Perspektive haben, nimmt der gesellschaftliche und familiäre Druck ab. Beschnittene Frauen, die eine Tochter haben, die wiederum von Beschneidung bedroht ist, bekommen in Deutschland übrigens Asyl. Sie brauchen dafür allerdings zunächst mal ein Gutachten eines Frauenarztes.

Inwiefern sind hiesige Ärzte mit den Problemen beschnittener Frauen vertraut?
Das ist ein großes Problem, da herrscht nach wie vor viel Unwissenheit. Ich habe vor ein paar Jahren für eine schwangere Frau gedolmetscht. Sie lebte in einer Flüchtlingsunterkunft. Als die Wehen einsetzten, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Als ich in der Klinik ankam, standen acht Ärzte um sie herum, die völlig schockiert und überfordert waren, weil die Frau komplett zugenäht war. Die Mediziner konnten sich gar nicht erklären, wie sie überhaupt schwanger geworden war. Das Kind wurde dann per Kaiserschnitt geholt.

Was können Ärzte sonst für die betroffenen Frauen tun? Ist zum Beispiel eine operative Rekonstruktion möglich?
Das ist möglich, ja. Ich kenne allerdings nur eine Klinik, in der das gemacht wird: von Priv.-Doz. Dr. med. Dan mon O’Dey am Luisenhospital in Aachen.

Lassen Sie uns zuletzt kurz auf die Terminologie kommen. Der Begriff Beschneidung klingt ja doch ziemlich verharmlosend. Sie selbst arbeiten aber mit dem Wort.
Die Betroffenen selbst möchten nicht als verstümmelt bezeichnet werden. Sie empfinden das als sehr verletzend. Deswegen verwenden wir in der Beratungsarbeit den Begriff Beschneidung. Ich selbst bezeichne mich auch als beschnitten und nicht als verstümmelt. Das Wort Genitalverstümmelung benutzen wir manchmal, um deutlich zu machen, wie schlimm dieser Eingriff für die Frauen und Mädchen ist – auch im Unterschied zur Jungenbeschneidung.

stop mutilation e.V., Himmelgeister Str. 107a (Salzmannbau), Düsseldorf, 0211-93885791, stop-mutilation.org

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