Der erste Teil des Gesprächs ist am 10. April 2017 erschienen.
Gehen Italiener deiner Meinung nach anders mit dem Thema Tod um als Deutsche?
Auf jeden Fall! In Italien gehören die Toten zum Leben dazu. Sie werden verehrt. Ich gebe dir mal ein Beispiel. Vor einiger Zeit ist Heinz Lucas gestorben, ein ehemaliger Trainer von Fortuna Düsseldorf. Eine Legende! Weißt du, wie viele Leute auf seiner Beerdigung waren? 18. 18 Leute. Wie beschämend ist das denn? Da musste selbst ich heulen. Wenn ein Trainer von Messina sterben würde, mit dem die Mannschaft aufgestiegen ist, würden Zehntausende kommen. Als mein Freund Lillo vor einigen Jahren gestorben ist, hat die Mannschaft im Stadion, da waren 15.000 Zuschauer da, drei Schweigeminuten für Lillo eingelegt. Nicht eine. Drei! Und Lillo war nur ein Fan. Das ist der Unterschied. Und die Leute gehen jeden Tag zum Friedhof, bringen frische Blumen. Dadurch ist man an dem Thema automatisch näher dran.
Und wie oft gehst du hier in Deutschland auf den Friedhof?
Kommt drauf an, wie ich Bock habe. (Er verwendet tatsächlich die Begriffe „Bock“ und „Friedhof“ in einem Atemzug. Das schafft nur einer. Mario.) Normalerweise gehe ich mindestens einmal im Monat auf den Nordfriedhof, um Enu zu besuchen.
Enu ist Enuma, die deinem Café den Namen leiht. Wie lange ist sie mittlerweile tot?
Zehn Jahre. 8. März. Zehn Jahre. (Er muss keine Sekunde überlegen. Das Datum ist sofort präsent.) Als sie gestorben war, habe ich ihre Mutter und die Geschwister gefragt, ob ich den Laden nach Enu benennen darf. Die fanden die Idee gut. Durch das Café ist Enu nach wie vor präsent.
Sie ist bei einem Autounfall gestorben.
Ja, direkt vor dem Café Knülle ist sie überfahren worden. 2007. Das war ein schlimmes Jahr für mich. Innerhalb von drei Monaten sind sechs oder sieben Leute, die mir etwas bedeutet haben, gestorben. Eine schwere Zeit.
Im Café hängt ein großes Foto von Enu, gleich neben der Theke. Fragen eigentlich oft Gäste nach ihr?
Ja, klar.
Und erzählst du dann die ganze, traurige Geschichte?
Hängt von der Situation ab. Und von meiner Tagesform. Manchmal kann ich drüber reden, manchmal nicht. In meinem ganzen Leben hat mich der Tod von Enu am härtesten getroffen. Die Bindung zu ihr war sehr stark, obwohl wir uns gar nicht so lange kannten. Vielleicht zwei Jahre. Ich habe es noch genau vor Augen, wie sie damals in den Laden stürmte. Abends. ‚Boah ey, du hast Tiramisu, geil! Du wirst mich jetzt nicht mehr los.‘ Das waren ihre ersten Worte. Anfangs konnte ich mir ihren Namen nicht merken. Ich musste immer wieder nachfragen. ‚Wie heißt du noch mal‘. Sie sagte ‚Enu, merk dir das‘. Wenn donnerstags die Gala rauskam, mussten wir immer alle warten. Enu musste erst das Kreuzworträtsel machen. Erst danach war die Gala frei für alle. Enu war die Nummer eins. Auf jeden Fall. Sie ist nur 23 geworden. Hatte das Leben noch vor sich. Aber bisher ist noch keiner wiedergekommen. Da, wo sie jetzt ist, ist es mit Sicherheit auch schön. (Er glaubt also doch, dass nach dem Tod etwas kommt. Und zwar etwas Schönes.) Deshalb habe ich ja auch keine Angst vor dem Tod. Ich finde es eher spannend, was danach passiert. Vielleicht wartet Enu ja auf mich. Mit einem Tiramisu. (Herrliche Vorstellung. Besser als Jungfrauen. Tiramisu!)
Bist du schon mal in einem Hospiz gewesen?
Ja, das war erst vor Kurzem. Im EVK. Da habe ich Mister TuRU besucht.
Wer ist Mister TuRU?
Der hat mir immer die Plakate für TuRU gebracht. Ich weiß gar nicht, wie er richtig hieß. Irgendwann kam er nicht mehr. Dann habe ich erfahren, dass er im Hospiz ist.
Und wie hast du das Hospiz erlebt?
Wie eine Wohngemeinschaft. Wir saßen zusammen in der großen Küche. Seine Freundin war auch da, mit ihrem Kind. Ich habe ihn dann eingeladen. Er sollte bei mir im Enuma essen kommen. Der hat richtig zugelegt, als er im Hospiz war. Von Krankheit gar keine Spur. Der hat sogar seine Wohnung noch behalten, so gut war er drauf. Irgendwann ist es dann umgeschlagen. Kurz vor dem Ende haben Todkranke ja oft noch mal ein Hoch. Und dann kommt der schnelle Tod.
So war es zuletzt auch bei deinem Patenonkel.
Ja, der hat die Diagnose Speiseröhrenkrebs bekommen. Zwei Wochen später ist er gestorben.
Er war in Mönchengladbach im Krankenhaus. Dort hast du ihn noch mal besucht. Musstest du dich überwinden?
Nein, gar nicht. Er ist 79 geworden. War fast 60 Jahre verheiratet. Glücklich. Hat einen guten Job gehabt. Hat nie Hunger leider müssen. Er hat ein schönes Leben gehabt. Man muss dankbar sein für das Schöne, was man gehabt hat. Habe ich ihm auch so gesagt. Und er hat es genauso gesehen. Sogar mit seinem Sohn hat er zum Schluss Frieden geschlossen.
Hättest du das auch gekonnt, wenn du an seiner Stelle gewesen wärst?
Ich würde in so eine Situation gar nicht erst kommen. Weil es immer nur ums Geld geht. Die Leute riechen den Tod und fangen im Hinterkopf an zu rechnen. Wenn du mit keinem teilen musst wie mein Sohn, ist das natürlich unproblematischer.
Der Tod deines Patenonkels ist erst ein paar Wochen her. Denkst du noch viel an ihn?
Ja, ich denke viel an ihn. Er hat früher in Rheydt gewohnt. Als ich 15, 16 war, bin ich mit meiner damaligen Freundin mit dem Fahrrad zu ihm gefahren. Von Düsseldorf aus. Ein Tagesausflug. Das war eine schöne Zeit.
Warst du selber dem Tod schon mal nah?
Ja, war ich. Ich habe die Situation sofort vor Augen. Das war vor etwa anderthalb Jahren. Ich kam vom Laufen aus dem Volksgarten. Bei den Uhren wollte ich die Straße überqueren, rüber zum TuRU-Platz. Ich hatte grün, wollte erst rüber laufen, habe aber dann kurz innegehalten. In dem Moment brettert ein Wagen mit 120, 130 Sachen über Rot. Der hätte mich erwischt. 100 Prozent. Da war der Tod ganz nahe. Und wer hat mich gerettet? Enuma. Sie war mein Schutzengel.
Hast du eigentlich jemals an Suizid gedacht?
Suizid? Das Wort gibt es in meinem Vokabular nicht. (Er schnaubt. Unfassbar, wie kann man ihn nur so was fragen! Aber unsere Abmachung ist, dass zunächst einmal jede Frage zum Thema Tod möglich ist. Muss er jetzt durch.) Ich muss für meinen Sohn da sein. Muss hier im Laden für Unterhaltung sorgen.
Träumst du vom Tod?
Relativ oft sogar. Einmal habe ich geträumt, dass mein Vater in der Küche zwei Särge aufgestellt hatte. Er sagte zu mir ‚Komm, leg‘ dich rein, jetzt musst du sterben‘. Ich dachte: Scheiße, jetzt bist du tot. Jetzt ist alles vorbei. Dann bin ich wachgeworden. (Er lacht. Erleichtert, irgendwie. Stimmung wird besser. Nun, da das Gespräch fast vorbei ist.)
War das Thema Tod in deinem Leben eigentlich immer präsent? Oder anders gefragt: Als junger Mensch fühlt man sich ja unsterblich. Wann hat das bei dir persönlich aufgehört?
Früher habe ich mich mit dem Thema gar nicht auseinander gesetzt. Überhaupt nicht. Hat in meinem Kopf nicht stattgefunden. Mittlerweile gehe ich ja auf die 60 zu. Ich denke nicht, dass ich noch 20 Jahre habe. Aber ich habe keine Angst, überhaupt nicht. Ich bin dankbar für das, was ich gelebt und erlebt habe. Und das ist eigentlich bis auf die Kindheit, die ersten 15, 16 Jahre, Luxus. Ich habe tolle Leute getroffen. Viel erlebt. Fußballtechnisch. Konzerttechnisch.
Und du bist ja auch nie richtig schwer krank gewesen?
Nee.
Dafür kannst du ja auch dankbar sein.
Das vergessen wir ja oft, dass die Gesundheit das größte Kapital ist, das wir haben.
Das Interview ist die zweite Folge einer Reihe monothematischer Gespräche über die großen Themen des Lebens. Liebe. Arbeit. Familie. Glück. Geld. Über Derartiges spricht normalerweise eher Richard David Precht mit der „Zeit“ oder der „SZ“. Aber auch Mario macht sich so seine Gedanken. Und er traut sich, die Dinge beim Namen zu nennen.
In dieser Reihe außerdem erschienen: